Clickbaiting oder warum Behinderte bei der Tageschau nicht wählen dürfen“

Behinderte dürfen nicht wählen“ lese ich bei der Tageschau online und reibe mir die Ohren: Was habe ich eigentlich die letzten 20 Jahre gemacht? Habe ich mir eingebildet, an zahllosen Wahlen teilgenommen zu haben?
Ah, ich lese ausnahmsweise den zugehörigen Text und stelle fest, es geht um Personen, die in allen Belangen einer Betreuung unterstehen. Es geht also um 80.000 Betreute, nicht um 7,6 Millionen Schwerbehinderte. Die Überschrift ist also falsch oder zumindest suggestiv. Kommt uns das nicht irgendwie bekannt vor? Finden wir das nicht bei zahlreichen linken und rechten Alternativ-Fakten-Postillen. Deren Nachrichten enthalten ja auch fast immer an irgendeiner Stelle einen wahren Fakt. Dieser Fakt wird mit suggestiven Fragen, unbelegten Behauptungen und reißerischen Überschriften aufgeblasen.
Es ist übrigens auch inhaltlich falsch: Man braucht keine Behinderung, um einer Betreuung in allen Belangen zu unterstehen. Die Gefahr, dass eine Bezugsperson die Stimme ihres Schützlings ohne dessen Einveerständnis abgibt, wird natürlich komplett unterschlagen, passt ja nicht so gut zum Bild des wehrlosen Opfers eines herzlosen Staates.
Jetzt bleibt die Frage, warum ein halbwegs seriöses Medium wie die Tagesschau mit solch suggestiven Überschriften arbeitet. Die Antwort ist Click-Baiting. Heißt, so viele Klicks wie möglich generieren.
Nun bin ich Online-Redakteur und kenne das Problem. Bei einer Überschrift wie „Menschen, die in allen Belangen betreut werden, dürfen nicht wählen“ wird der Leser in Zeiten, in denen Aufmerksamkeit in Milisekunden gemessen wird niemanden vom Hocker reißen.
Doch gerade die vom Bürger finanzierten öffentlich-rechtlichen Publikationen haben solch ein Verhalten nicht nötig. Und was ist jetzt das Ergebnis? Tausende von Leuten, die den Artikel nicht gelesen oder verstanden haben und nur die Überschrift kennen denken, Behinderte dürften nicht wählen. Auf Facebook liest man die üblichen Beschimpfungen auf Politiker. Die Tagesschau hat also ihren redlichen Beitrag zum Hate-Speeching geleistet.
Als Online-Redakteure sollten wir zumindest eines daraus lernen: Egal, was in unserem Text steht, wir sind auch für unsere Überschriften verantwortlich. Es ist unredlich, falsche Fakten über Überschriften zu verbreiten, denn wir können nie wissen, ob die Leser unsere Artikel tatsächlich lesen.