Wie sinnvoll sind Beschriftungen in Braille/Blindenschrift?

gefühlt gibt es eine Inflation an Blindenschrift/Braille im alltäglichen Lebensraum. Man findet sie an ICE-sitzen und in Toiletten, als Teil der Raum-Beschriftungen, auf Medikamentenverpackungen. Warum das Schaden kann und wie es besser geht, erfahrt ihr in diesem Beitrag.
Irgendwer, ich glaube das Büro des Behindertenbeauftragten, schickt mir regelmäßig Einladungen zu Veranstaltungen in Berlin. Dabei ist immer eine Karte mit Braille-Ausdruck. Sie landen bei mir ungelesen im Altpapier, ich habe bisher nicht herausgefunden, wie ich in deren Verteiler gelandet bin, aber für eine Abend-Vernissage oder einen Kinofilm ist mir die Fahrt nach Berlin doch zu weit. Der Punkt ist, dass das Bedrucken solcher Karten mit Braille sehr viel Geld kostet, in geringen Stückzahlen sogar noch mehr und es für die Meisten, an die das Teil verschickt wird komplett nutzlos ist.
In Griechenland soll ein Gesetz beschlossen worden sein, wonach alle Restaurants Speisekarten in Blindenschrift bereithalten sollen. Falls die Blindenschrift in GR nicht wesentlich weiterverbreitet ist als in Deutschland, dafür habe ich keinen Anhaltspunkt, frage ich mich schon, wer auf diese absolut sinnfreie Idee gekommen ist. Es ergeben sich durch Braille Probleme, die man nur als Blinder kennt: Da man die Texte mit dem Finger berühren muss und Papier ein hervorragender Träger für Fett ist, lagern sich nach und nach Keime in der Fettschicht auf den Buchstaben ab. Sind sie ein paar Mal gelesen worden, hat man also irgendwann eine wunderbare Keimschleuder insbesondere im gastronomischen Bereich. Von Speiseflecken reden wir gar nicht. Falls sich Papier dieser Art überhaupt desinfizieren ließe, würde wohl keiner auf die Idee kommen, dies zu tun. Mir persönlich ist es relativ egal, aber ich kenne Blinde, die kein Buch anfassen würden, welches ein Anderer gelesen hat. Es lässt sich natürlich einwenden, dass Geldscheine ähnlich verkeimt sind, mit diesen hat man aber selten so intensiven Kontakt.

Wer kann Braille?

Es ist ein offenes Geheimnis unter Blinden, dass die meisten Blinden kein Braille können. diejenigen, die eine Blindenschule besucht haben oder eine Blinden-Reha – eine blindentechnische Grundausbildung – gemacht haben, können in der Regel Braille. Für später Erblindete ist Braille schwierig zu erlernen und zu behalten.

Was regt sich der Alte auf

Nun schadet es auf den ersten Blick erst mal niemandem, wenn etwas mit Blindenschrift ausgestattet ist. Doch schadet es indirekt doch. Es bindet nämlich Ressourcen, die anderswo besser genutzt wären. Die Preise für Braille-Visitenkarten sind der absolute Wahnsinn und wie gesagt, wenn es nicht um Symbolik geht totale Verschwendung. Die Wahrscheinlichkeit, einen Blinden zu treffen, der deine Visitenkarte haben möchte ist ohnehin gering. Die Wahrscheinlichkeit, einen Blinden zu treffen, der deine Visitenkarte will und Blindenschrift lesen kann, ist jenseits bestimmter Branchen = 0.

Das Schweigen der Sehenden

Als Blinder mache ich häufig Witze darüber: Man hat mit einer sichtbaren Behinderung häufig Narrenfreiheit. Der Pulli ist dreckig, der Hosenstall offen, der Kerl riecht wie ein Iltis – macht doch nichts, er ist blind. Sag lieber nichts, sonst ist er traurig, beleidigt oder verklagt dich wegen Diskriminierung.
Ein ähnlicher Mechanismus greift, wenn es um Maßnahmen zum Thema Blindheit geht. Wer hier als Sehender mit Geld oder Logistik-Problemen argumentiert, darf sich auf einen Shitstorm vorbereiten. Das hat zur Folge, dass sich jeder Unsinn mit dem Argument Inklusion oder Barrierefreiheit verkaufen lässt. Es ist aber nun mal so, dass die Ressourcen endlich sind und wer Geld für Blödsinn ausgegeben hat, dem fehlt das Geld für sinnvolle Maßnahmen. Falls das mal bei den Beratern der Blindenverbände und wer immer noch in diesem Bereich aktiv ist ankommt, können wir vielleicht mal dazu übergehen, Maßnahmen vorzuschlagen, die nicht nur symbolisch, sondern auch praktisch nutzen. Mal ehrlich, welche Sehenden-Organisation würde es heute wagen zu sagen, dass ihnen etwa Braille-Beschriftungen zu teuer sind und das Leitsysteme in kleinen geschlossenen Gebäuden so überflüssig wie ein Kropf sind? Wir stoßen hier auf die Schattenseite der Geschäftemacherei mit Inklusion und Barrierefreiheit.
Man kann mir gerne vorwerfen, dass ich etwa XING und andere Anbieter für ihre mangelhafte Barrierefreiheit kritisiert habe. Doch habe ich immer meine Gründe dafür genannt: Es gibt etwa ein Quasi-Monopol, die Ressourcen sind vorhanden oder man hat sich selber seiner Barrierefreiheit gerühmt oder ist verpflichtet.

Was ist die Lösung?

Nun bin ich niemand, der gerne meckert ohne eine Alternative zu präsentieren. Und diese ist so einfach, dass es mich wundert, warum sie niemand nennt: Sie heißt fühlbare Schwarzschrift. Schwarzschrift nennen wir die Schrift, die Sehende lesen. Sie fühlbar zu machen, ist kein großer Aufwand. Wir haben entsprechende Maschinen, wir haben 3D-Drucker, wir haben Stoff, der sich leicht ausschneiden und aufkleben lässt.
Der Vorteil dieser fühlbaren Schrift ist, dass sowohl spät Erblindete sie lesen können als auch blind geborene Kinder. Letztere müssen die Schwarzschrift in der Schule lernen. Und es schadet ihnen nicht, auch später noch die Form der Schwarzschrift-Buchstaben zu kennen.
Die Zeichen können auch von Personen gelesen werden, die wir in der Blindenszene komplett ausklammern: Menschen, welchen die Sensibilität in den Fingern fehlt, um Braille lesen zu können. Jeder sehende Mensch, den ich bisher gefragt habe hatte große Probleme, die Punkte komplexerer Braillezeichen wie etwa dem K, dem O und so weiter taktil zu erkennen.
Die Buchstaben aus Kunststoff oder Metall können sehr einfach hygienisch sauber gehalten und ggf. ersetzt werden. Vor allem können sie von Sehenden gelesen werden, womit diese feststellen, ob die Informationen noch stimmen. Das ist ja etwa das Problem bei Bürobeschriftungen: Es stehen zwar die Nummern der Büros auf den Schildern, nicht aber die Namen der jeweiligen Mitarbeiter, weil das organisatorisch, finanziell und platztechnisch schwierig ist.
Einen Vorteil gibt es für stark Sehbehinderte: Sie können die Buchstaben ebenfalls abtasten. Für sie ist es nämlich nachteilig, wenn sich die Büro-Beschriftungen auf Hüft- und nicht auf Kopfhöhe befinden, weil sie sie sich eventuell vorbeugen müssen, um die hüftigen Beschriftungen zu lesen.
Längere Texte damit zu produzieren ist natürlich nicht sinnvoll. Viele Buchstaben abzutasten ist nicht komfortabel möglich. Doch was spricht dagegen, dem Blinden ein iPhone zu geben, auf dem er die Speisekarte tagesaktuell ablesen kann? Die paar Gesten, die er dafür braucht, kann man ihm zur Not auch zeigen. Und wenn er damit nicht klarkommt, wird die Speisekarte oder was auch immer selbständig lesen zu können sicher nicht sein größtes Problem sein. Eine weitere Möglichkeit wäre ein einfacher DAISY-Player, den der Betreiber des Etablissements im Zweifelsfall selbst besprechen und dadurch tagesaktuell halten könnte.

Fazit

Vieles von dem, was angeblich für Blinde gemacht wird ist leider reine Symbolpolitik. Ich habe nichts gegen Braille und übrigens auch nichts gegen Symbolik, doch endet mein Verständnis da, wo der Symbolik nichts Praktisches für die Mehrheit der Blinden gegenübersteht. Mir ist es trotz Braille noch kein einziges Mal gelungen, meinen Sitz im ICE selbständig zu finden. Die Sanitäranlagen abzutasten dürfte für jemanden ohne sehrest eine etwas widerliche Angelegenheit sein.
Und die Verantwortlichen glauben tatsächlich, den meisten Blinden etwas Gutes getan zu haben. Wir kennen das schon aus der Verhaltensforschung: Es gibt das Phänomen, dass Personen, die etwas Gutes getan haben glauben, sich schlechter benehmen zu dürfen, es ist sozusagen das Karma des Verhaltens, am Ende kommt Plus Minus Null raus. der Schaffner fragt sich etwa, warum er den Blinden zum Platz führen soll, wenn die Bahn doch zehntausende Euro für Platzbeschriftungen ausgegeben hat. Der Restaurant-Besitzer hat 200 Euro in die Karte in Blindenschrift investiert, aber der Blinde will vom Kellner vorgelesen haben, was es gibt. Der Hotel-Angestellte will den Blinden nichts auf sein Zimmer bringen, es ist doch alles mit Braille beschriftet, wofür soll denn das gut gewesen sein? Warum haben wir jetzt dieses Leitsystem installiert, wenn der Blinde trotzdem kreuz und quer läuft? Und diese Fragen sind leider berechtigt, denn wer immer diese Systeme angepriesen oder verkauft hat, hat die Zuständigen nicht richtig aufgeklärt, im Zweifelsfall natürlich, weil er ohne Auftrag kein Geld verdient.

15 Gedanken zu „Wie sinnvoll sind Beschriftungen in Braille/Blindenschrift?“

  1. Gebe dir Recht. Ich dachte schon ich sei die Einzige, die das ekelig findet, so Speisekarten zu Fühlen oder aufem Klo im Zug. Wobei ich nicht weiß, wie mans dort unekeliger machen könnte. Bei den Sitzen im Zug würden die Zahlen zum fühlen in Schwarzschrift reichen, die in Braille könnte man sich sparen. Meinen Platz im Zug finde ich so aber schon regelmäßig. Die Zahl des Wagens müsste halt auch noch irgendwo stehen. Erschreckenderweise kenne ich auch viele blinde, die keine Zahlen und auch ein paar wenige, die keine Schwarzschrift können. Und in Griechenland hab‘ ich noch nie ’ne Karte in Braille bekommen, muss ich testen, kann ich mir gar nicht vorstelln.

  2. Hallo,

    wenn sie keine Beschriftungen brauchen, sollten sie nicht darüber schreiben. Außerdem finde ich es nicht gut, dass ich hier gedutzt werde.

  3. Ich finde es hochgradig kurzsichtig und anmaßend, so zu argumentieren. Sie führen Leute an, die kein Braille können und schlagen gleichzeitig vor, ihnen für die Speisekarte ein iPhone zu geben. Was ist mit den vielen, von Ihnen ins Feld geführten Späterblindeten, die weder das Bedienkonzept kennen, noch über die dazu nötigen motorischen Fähigkeiten verfügen? Da ist Ihr eigenes technisches Können dann auf die Allgemeinheit übertragbar. Zudem kann man Braille-Speisekarten auf abwischbare Folie Tiefziehen, wie auch solche für Sehende oft laminiert sind. Braille erfreut sich gerade unter jungen Leuten einer Renaissance, die die in der Generation Sprachausgabe verkümmerte Orthographie wieder fördert. Diesbezüglich von Inflation zu sprechen, finde ich vermessen. Man könnte auch von einer Inflation von Akustikampeln sprechen und anführen, die meisten, insbesondere älteren Blinden würden das Haus eh nicht ohne Begleitung verlassen. Ein Argument, das bezüglich der AVAS-Diskussion übrigens tatsächlich fällt. Da ist die Frage nicht fern, warum soll man Minderheiten überhaupt irgendwelche Zugeständnisse machen? Na danke. Im übrigen freue ich mich über jede Visitenkarte, die ich nicht einscannen muss. Dass die meist aus einer gewissen Branche kommen, tut doch überhaupt nichts zur Sache. Ob am Bahnhofsgleis oder auf der Medikamentenpackung, Braille bedeutet für mich Teilhabe und Zugang.

  4. Guten Abend Dominigos,

    vielen Dank für Deinen ausführlichen Artikel. Allerdings bin ich noch etwas hin- und hergerissen: Ich habe viele Jahre ein Gymnasium für Blinde und Sehbehinderte in Marburg besucht. Dort wird sehr auf Barrierefreiheit geachtet. Das fängt bei Punktschriftkarten in Restaurants an und hört bei akustischen Ampeln an jeder Ecke auf.

    Ich habe es immer als sehr angenehm empfunden, wenn ich mit blinden Freunden von mir Essen gegangen bin und diese sich selbst auf einer Speisekarte etwas zum Essen aussuchen konnten und nicht auf irgendjemanden angewiesen waren, der ihnen die Inhalte der Karte vorliest. Dass es hier unhygienisch zugehen kann, wusste ich bis gerade eben nicht, glaube aber, dass einem auch an jeder anderen Ecke im Restaurant „Hygiene Fallen“ begegnen können.

    Über den Sinn und Unsinn von Punktschriftbeschriftungen lässt sich sicher streiten, wie man auch anhand der Komemntare zu diesem Artikel lesen kann. Ich selbst habe innerhalb der letzten zwei Jahre viel an Sehrest verloren und beginne im Januar mit meiner BTG (Blindentechnischen Grundausbildung) und freue mich sehr darauf, endlich Punktschrift zu lernen. Momentan sieht mein Alltag so aus: Meine Augentropfen muss ich häufiger unters BLG legen oder mit der Lupe davor kleben, um die Namen lesen zu können. (Nicht alle Augentropfen lassen sich anhand des unterschiedlichen Deckels unterscheiden). Wenn ich alleine mit dem ICE unterwegs bin, würde ich gerne meinen Sitzplatz alleine aufsuchen, ohne dabei immer um Hilfe bitten zu müssen. Da ich keine Punktschrift kann, ist mir das noch nicht möglich. (Das bezieht sich im Übrigen auch auf die Beschriftungen an Bahnhöfen).
    An meiner Hochschule klebte ich immer mit der Lupe vor den Beschriftungen der Räume, weil ich selbstständig sein wollte. Wären neben den Schwarzschriftbeschriftungen auch Punktschriftnotizen da gewesen, hätte es mir den Alltag deutlich erleichtert.

    Natürlich ist es sinnfrei Visitenkarten in Punktschrift zu beschriften, da sich die Visitenkarten auch gut einscannen lassen bzw. man die Daten auch leicht im Internet finden könnte, wenn man den Namen des Gesprächspartners bzw. Namen der Institution kennt.

    Aber Deine Idee, die Punktschrift durch fühlbare Schwarzschrift zu ersetzen, finde ich etwas fragwürdig. Natürlich bin ich nicht geburtsblind und kann einige Aspekte daher wahrscheinlich nicht so gut einschätzen.
    Aber ich frage mich, ob man wirklich so viel an Ressourcen spren würde, wenn man die Schwarzschrift fühlbar macht. Braillezeilen müssten vergrößert werden, da ich mir kaum vorstellen kann, dass kleine Schwarzschriftbuchstaben auf so eine Zeile passen. Ich glaube auch nicht, dass viel Inhalt in eine Zeile passen würde, weiß aber (noch) nicht wie das im Vergleich zur Punktschrift wäre.

    Warum versucht man nicht einfach, das Verfahren der Punktschrift zu „erneuern“ und zwar so, dass man Ressourcen sparen kann? Schließlich funktioniert die Punktschrift – bis auf sinnfreie Beschriftungen und mangelnde Hygiene – ja ganz gut. Und warum also, das Rad neu erfinden?

    Ich bin wirklich froh, dass Du nicht erwähnt hast, dass man die Punktschrift durch das iPhone ersetzen soll :-).

    viele Grüße

  5. Pingback: Newsletter: Über Inklusion als Menschenrecht; Held_Innen der Kindheit; Referent*innen für menschenrechtsbasierte Behindertenpolitik und Selbstbestimmung. Vom 20. November 2018 – Raul Krauthausen - Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit. : Ra
  6. Lieber Domingos, wir schätzen Dich sehr, aber in diesem Artikel schließt Du allein von Deinen Befindlichkeiten auf die Allgemeinheit und das ist exakt Anti-Inklusiv.

    Alle blinden Schüler lernen Braille und das war immer so und wird auch so bleiben. Schwarzschrift fühlbar zu machen ist totaler Unsinn, wenn sie nicht in mindestens 12 mm Schriftgröße und nur in Großbuchstaben einer geeigneten Schrift hergestellt wird. Das ist übrigens teurer als Punktschrift.

    Solange nicht die wesentlichen Dinge im Alltag beschriftet sind, gibt es noch lange nicht genug Punktschrift. Von einer Inflation zu sprechen stellt die Tatsachen auf den Kopf.

    Auch unter Sehenden gibt es wohl eine handvoll Keim-Phobiker, die Speisekarten im Restaurant nicht anfassen wollen. Tatsache ist, dass alle Sehenden sehr viel verkeimtere Speisekarten benutzen, als die Braille-Speisekarten, die immer total sauber daherkommen, weil sie seltener genutzt werden.

    Audiodeskription und Gebärden, sowie Untertitel im Fernsehen halte ich für genauso wichtig wie Punktschriftbücher und Magazine. Auf Papier lesen zu können ist ein Menschenrecht, weil Bildung ein Menschenrecht ist. Das ist keine Alibi-Inklusion. Man kann und will nicht nur mit dem Computer auf die Welt schauen.

    Dass man mit der Herstellung von inklusiven Produkten und Umgebungen Geld verdient ist ein Segen! Solange wie es keiner machen wollte war das nämlich nicht möglich. Heute müssen zum Glück endlich auch in Deutschland Museen und öffentliche Einrichtungen barrierefrei werden. Endlich ist es ein Wirtschaftsfaktor! Dass heute Leute damit Geld verdienen ist das beste Zeichen dafür, dass Deutschland aufwacht.

    Wir haben noch einen langen Weg vor uns, bis wir da sind, wo man von Inklusion sprechen kann. Das eine geht schneller, das andere langsamer. Manches ist ohne das andere Unsinn. Aber die Dynamik zieht neue Bereiche mit und das große Ganze wird besser. Die Ganze ist mehr als die Summe der Teile.

  7. Liebe Leute,
    danke für euren zahlreichen Kommentare. Ich könnte natürlich behaupten, dass es sich um eine Polemik handelt und das ist es ein Stück weit auch. Doch das Problem der mangelnden Braille-Kenntnisse und der mangelnden Ressourcen ist real und ich finde eine Diskussion über den Sinn und Unsinn von Blindenschrift durchaus sinnvoll. Ebenso wie über Leitsysteme. Ich reduziere das nicht auf die Ressourcenfrage, wie mir vielfach vorgeworfen wird, sondern betrachte unterschiedliche Argumente. Ich habe aber auch kein Problem damit, wenn jemand anderer Meinung ist als ich. Es ist auf jeden Fall schon mal etwas gewonnen, wenn wir erklären, warum etwas in einer konkreten Situation tatsächlich sinnvoll ist.

    Viele Grüße

    Domingos

  8. Hi Domingos, hier scheinst Du mir wohl wirklich von eigenen Befindlichkeiten ausgegangen zu sein. Elle, die sparen wollen, werden sich gern auf dich berufen.
    Vor der Brailleschrift gab es die Reliefschrift. Braille hat sich wegen der optimalen Zugänglichkeit für den Tastsinn durchgesetzt. Reliefbuchstaben sind wesentlich schwerer zu erfummeln.
    Über die Sitzplatzbeschriftungen im ICE bin ich sehr froh. Komme ich von der Toilette zurück, finde ich meinen Sitz präzise ohne das Abzählen der Sitzlehnen wieder. Und selbst in Begleitung, wenn ich vorneweg gehe, kann ich bei der Sitzplatzsuche fast so was wie eine Zum-Platz-Führerschaft übernehmen.
    Relief- oder Pyramidenschrift wird auf diesen Schildchen parallel angeboten. Die Bahn hat mit ihrem zweisinnigen Kennzeichnungssystem für alle einen großen Schritt nach vorn gemacht. Meine Frau konnte früher die Platznummern nicht lesen, ohne ihre Brille raus zu holen.
    Je mehr Braille im Alltag, desto mehr lohnt es sich, diese für uns so fundamental wichtige Schrift zu lernen.
    Bei Visitenkarten handelt es sich um Symbolhandlungen, aber auch da bist Du, wie du schreibst, nicht prinzipiell dagegen. Wer sich solche Karten anfertigen lässt, gibt damit auch ein Statement ab wie das auch jemand tut, der Goldschrift oder mattierte Oberflächen oder was weißt ich für passend hält.
    Es hat die Selbsthilfe immer geschwächt, wenn die Kommunen oder sonstigen Institutionen sich auf einen Betroffenen berufen konnten, der all das, was da gemacht werden sollte, für entbehrlichen Firlefanz hält.
    Du hast natürlich recht: Es kommt zu Übertreibungen und nicht sachgerechtem Einsatz von Leit- und Informationsangeboten, wenn ohne Fachleute etwas gemacht wird. Da entstehen auch überflüssige Leitstreifen und sinnlose Beschilderungen, die eh von keiner tastenden Hand je gesucht oder gefunden werden. Da müssen sich Berater einbringen. Diese Fachleute sollten zunehmend auch Betroffene sein und zwar solche mit Kompetenz, die nicht nur von sich selber ausgehen.

  9. Guten Abend Domingos, geäußert zur Punkt Schrift habe ich mich schon. Bitte bei Veröffentlichung meinen Namen berichtigen

    1. Ich brauche Braille

      Brauchen wir die Brailleschrift? Sollten diese Frage nicht Menschen beantworten, die Braille können und nutzen?
      Erst 1879 hat der Deutsche Blindenlehrerkongress auch auf Betreiben der Selbsthilfe beschlossen, die 1825 entwickelte Brailleschrift offiziell als Schrift für den Unterricht einzuführen. Gegenüber der vorher gebräuchlichen Reliefdarstellung herkömmlicher Buchstaben erwies sie sich damals schon weit überlegen und ermöglichte erstmals das flüssige Lesen auch blinden Menschen. Denn die Buchstaben aus 6 Punkten haben eine viel einfachere Struktur als lateinische Reliefbuchstaben und sind auch heute noch auf Papier, Kunststoff oder Metall viel leichter herzustellen als Lateinische Profilschrift.
      Freilich tun sich viele gerade ältere Erblindete Menschen schwer, die Brailleschrift zu erlernen, weil sie sich nicht vorstellen können, das es tatsächlich möglich ist, diese kleinen Punkte zu fühlen. Auch bei jüngeren Menschen, gerade wenn sie allmählich erblinden, gibt es diese Abwehrhaltung. Leugnung, Abwehr und Agression sind typische Reaktionen der Bewältigung einer Behinderung. Diese allmählich zu überwinden, dabei helfen auch die Beratungsangebote der Blindenselbsthilfe und von Blickpunkt Auge.
      Leider fehlt es an Braille-Unterricht gerade für ältere Menschen. Aber ist die richtige Forderung angesichts dieses Mangels, die Brailleschrift abzuschaffen?
      Untersuchungen haben ergeben, dass die unhygienischsten Stellen in unserer Umgebung die Handläufe von Rolltreppen sind. Aber wer würde fordern, diese abzuschaffen. An Handläufen auf Bahnhöfen und an Sitzplätzen in manchen Zügen gibt es übrigens nicht nur Brailleschrift sondern auch die hier geforderte Profilschrift. Für mich persönlich ist beides wichtig, um mich im Zug und auf Bahnhöfen zurecht zu finden. Und sogar auf der Zugtoilette ist Braille wichtig, damit man wirklich die Spülung und nicht den Allarmknopf betätigt. Von Fahrstühlen, die ohne taktil beschriftete Knöpfe für blinde Menschen nicht nutzbar wären oder Medikamenten, die man ohne Sehen und ohne Braille nicht auseinanderhalten kann, ganz zu schweigen.
      Wer richtet über Menschen, die blind sind und Brailleschrift brauchen, um im Alltag besser am Leben in der Gemeinschaft teilhaben zu können? Und was wird noch alles viel zu teuer, wenn wir gesellschaftliche Aufgaben so kalkulieren?
      Muss meine Mutter mit über 70 wirklich noch künstliche Hüften kriegen? Und gibt es nicht Menschen, deren Leben für die Allgemeinheit viel zu kostspielig ist?
      Die Brailleschrift ist eine tolle, geniale Erfindung, die immer wieder zeigt, dass sie zukunftsfähig ist: Sie geht nicht nur auf Papier oder Aufzugknöpfen, sondern auch am Computer und Smartphone und es ist wunderbar, dass Schrift in Punkten zu meinem Alltag gehört, wie Schrift in Strichen zum Alltag aller Sehenden.
      Reiner Delgado, DBSV

  10. Ich brauche raille

    Brauchen wir die Brailleschrift? Sollten diese Frage nicht Menschen beantworten, die Braille können und nutzen?
    Erst 1879 hat der Deutsche Blindenlehrerkongress auch auf Betreiben der Selbsthilfe beschlossen, die 1825 entwickelte Brailleschrift offiziell als Schrift für den Unterricht einzuführen. Gegenüber der vorher gebräuchlichen Reliefdarstellung herkömmlicher Buchstaben erwies sie sich damals schon weit überlegen und ermöglichte erstmals das flüssige Lesen auch blinden Menschen. Denn die Buchstaben aus 6 Punkten haben eine viel einfachere Struktur als lateinische Reliefbuchstaben und sind auch heute noch auf Papier, Kunststoff oder Metall viel leichter herzustellen als Lateinische Profilschrift.
    Freilich tun sich viele gerade ältere Erblindete Menschen schwer, die Brailleschrift zu erlernen, weil sie sich nicht vorstellen können, das es tatsächlich möglich ist, diese kleinen Punkte zu fühlen. Auch bei jüngeren Menschen, gerade wenn sie allmählich erblinden, gibt es diese Abwehrhaltung. Leugnung, Abwehr und Agression sind typische Reaktionen der Bewältigung einer Behinderung. Diese allmählich zu überwinden, dabei helfen auch die Beratungsangebote der Blindenselbsthilfe und von Blickpunkt Auge.
    Leider fehlt es an Braille-Unterricht gerade für ältere Menschen. Aber ist die richtige Forderung angesichts dieses Mangels, die Brailleschrift abzuschaffen?
    Untersuchungen haben ergeben, dass die unhygienischsten Stellen in unserer Umgebung die Handläufe von Rolltreppen sind. Aber wer würde fordern, diese abzuschaffen. An Handläufen auf Bahnhöfen und an Sitzplätzen in manchen Zügen gibt es übrigens nicht nur Brailleschrift sondern auch die hier geforderte Profilschrift. Für mich persönlich ist beides wichtig, um mich im Zug und auf Bahnhöfen zurecht zu finden. Und sogar auf der Zugtoilette ist Braille wichtig, damit man wirklich die Spülung und nicht den Allarmknopf betätigt. Von Fahrstühlen, die ohne taktil beschriftete Knöpfe für blinde Menschen nicht nutzbar wären oder Medikamenten, die man ohne Sehen und ohne Braille nicht auseinanderhalten kann, ganz zu schweigen.
    Wer richtet über Menschen, die blind sind und Brailleschrift brauchen, um im Alltag besser am Leben in der Gemeinschaft teilhaben zu können? Und was wird noch alles viel zu teuer, wenn wir gesellschaftliche Aufgaben so kalkulieren?
    Muss meine Mutter mit über 70 wirklich noch künstliche Hüften kriegen? Und gibt es nicht Menschen, deren Leben für die Allgemeinheit viel zu kostspielig ist?
    Die Brailleschrift ist eine tolle, geniale Erfindung, die immer wieder zeigt, dass sie zukunftsfähig ist: Sie geht nicht nur auf Papier oder Aufzugknöpfen, sondern auch am Computer und Smartphone und es ist wunderbar, dass Schrift in Punkten zu meinem Alltag gehört, wie Schrift in Strichen zum Alltag aller Sehenden.
    Reiner Delgado, DBSV

  11. Ich brauche Braille

    Brauchen wir die Brailleschrift? Sollten diese Frage nicht Menschen beantworten, die Braille können und nutzen?
    Erst 1879 hat der Deutsche Blindenlehrerkongress auch auf Betreiben der Selbsthilfe beschlossen, die 1825 entwickelte Brailleschrift offiziell als Schrift für den Unterricht einzuführen. Gegenüber der vorher gebräuchlichen Reliefdarstellung herkömmlicher Buchstaben erwies sie sich damals schon weit überlegen und ermöglichte erstmals das flüssige Lesen auch blinden Menschen. Denn die Buchstaben aus 6 Punkten haben eine viel einfachere Struktur als lateinische Reliefbuchstaben und sind auch heute noch auf Papier, Kunststoff oder Metall viel leichter herzustellen als Lateinische Profilschrift.
    Freilich tun sich viele gerade ältere Erblindete Menschen schwer, die Brailleschrift zu erlernen, weil sie sich nicht vorstellen können, das es tatsächlich möglich ist, diese kleinen Punkte zu fühlen. Auch bei jüngeren Menschen, gerade wenn sie allmählich erblinden, gibt es diese Abwehrhaltung. Leugnung, Abwehr und Agression sind typische Reaktionen der Bewältigung einer Behinderung. Diese allmählich zu überwinden, dabei helfen auch die Beratungsangebote der Blindenselbsthilfe und von Blickpunkt Auge.
    Leider fehlt es an Braille-Unterricht gerade für ältere Menschen. Aber ist die richtige Forderung angesichts dieses Mangels, die Brailleschrift abzuschaffen?
    Untersuchungen haben ergeben, dass die unhygienischsten Stellen in unserer Umgebung die Handläufe von Rolltreppen sind. Aber wer würde fordern, diese abzuschaffen. An Handläufen auf Bahnhöfen und an Sitzplätzen in manchen Zügen gibt es übrigens nicht nur Brailleschrift sondern auch die hier geforderte Profilschrift. Für mich persönlich ist beides wichtig, um mich im Zug und auf Bahnhöfen zurecht zu finden. Und sogar auf der Zugtoilette ist Braille wichtig, damit man wirklich die Spülung und nicht den Allarmknopf betätigt. Von Fahrstühlen, die ohne taktil beschriftete Knöpfe für blinde Menschen nicht nutzbar wären oder Medikamenten, die man ohne Sehen und ohne Braille nicht auseinanderhalten kann, ganz zu schweigen.
    Wer richtet über Menschen, die blind sind und Brailleschrift brauchen, um im Alltag besser am Leben in der Gemeinschaft teilhaben zu können? Und was wird noch alles viel zu teuer, wenn wir gesellschaftliche Aufgaben so kalkulieren?
    Muss meine Mutter mit über 70 wirklich noch künstliche Hüften kriegen? Und gibt es nicht Menschen, deren Leben für die Allgemeinheit viel zu kostspielig ist?
    Die Brailleschrift ist eine tolle, geniale Erfindung, die immer wieder zeigt, dass sie zukunftsfähig ist: Sie geht nicht nur auf Papier oder Aufzugknöpfen, sondern auch am Computer und Smartphone und es ist wunderbar, dass Schrift in Punkten zu meinem Alltag gehört, wie Schrift in Strichen zum Alltag aller Sehenden.
    Reiner Delgado, DBSV

  12. Vielen Dank noch mal für eure zahlreichen kritischen Kommentare. Es mag sein, dass mein zentrales Argument nicht angekommen ist, ich wiederhole es aber gerne: Es sind zu wenige Menschen, die Braille können und es lernen oder verwenden können. Wenn ich mal wirklich alt bin, fehlt mir sowohl die Sensibilität als auch die nötige energie und Beweglichkeit in den Fingern, um Blindenschrift lesen zu können. Dass die Blindenverbände dieses Problem durchaus ignorieren, ist mir bewusst, aber ich kann es leider nicht ignorieren.
    Wenn ich meine Ressourcen aber in Braille investiere, habe ich für die anderen Blinden keine Ressourcen mehr. Leider leben wir nicht in einer Zauberwelt, in der ich über beliebig viele Mittel verfüge, um allen gerecht zu werden. Ergo muss ich an Systemen arbeiten, die mehr Personen erreiche, deswegen plädiere ich für fühlbare Schwarzschrift und es gibt kein Argument, dass mich zu einer anderen Ansicht bringen würde.

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