Warum wir konstruktiver mit Behinderung umgehen müssen

Heute muss ich euch ein Geständnis machen – ich lese relativ wenige Beiträge zum Thema Behinderung – sei es Media classic oder Social Media. Das hat viele Gründe, unter anderem kommt da nichts mehr wahnsinnig Neues, wenn man schon fast zehn Jahre dabei ist. Ein anderer Grund ist aber, dass mich die Berichte auf Dauer frustrieren. Ich plädiere deshalb für einen konstruktiveren Umgang mit dem Thema Behinderung in den klassischen und sozialen Medien. Konstruktiv ist hier im Sinne von Constructive journalism gemeint, heißt, dass man den Fokus nicht nur auf negative Entwicklungen legt, sondern auch über positive Entwicklungen berichtet.

Behinderung ist nicht so schlimm oder?

Es gibt einen Grund-Widerspruch in der Behinderten-Bewegung, den sie bislang nicht auflösen konnte: Einerseits möchte sie zeigen, dass Behinderte durchaus nicht unglücklich sind, ein gutes Leben führen können, selbständig sein können und so weiter. Von den Medien wird gefordert, dass sie Behinderte nicht nur als Opfer darstellen sollen.
In der Praxis sind aber 90 Prozent der Beiträge, die von behinderten Menschen kommen und über ihre Situation handeln negativ gefärbt. Ich verzichte hier auf Beispiele, ihr mögt euch selbst einen Überblick verschaffen. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass in den klassischen Medien Behinderte häufig als Helden oder Opfer dargestellt werden, die Journalisten haben im Web recherchiert, wie es von ihnen erwartet wird und das ist das Ergebnis ihrer Recherche.
Nun liegt es in der Natur der Sache, dass Positives keinen Nachrichtenwert hat: Heute 100 Prozent der Flugzeuge sicher gelandet wird man wahrscheinlich nie in der Zeitung lesen. Und natürlich handelt es sich in jedem Fall um authentische, persönliche Erfahrungen, über die dieses Individuum das erste Mal berichtet.
In summa zeichnen diese Berichte aber kein positives Bild darüber, wie es ist, eine Behinderung zu haben. Und wenn man mehrere dieser Berichte von unterschiedlichen Individuen gelesen hat, verdichtet sich dieses negative Bild zur Gewissheit. Es gibt einen Effekt der Selbstverstärkung: Je mehr negative Erfahrungen man liest, desto stärker verdichtet sich das negative Bild und zwar sowohl bei Nicht-Betroffenen als auch bei Betroffenen selbst, obwohl Letztere es ja besser wissen sollten.
Kennt ihr das: Wenn doch mal jemand etwas Positives berichtet, wird früher oder später jemand kommen, der sagt, das sei die Ausnahme oder er wirft eine negative Erfahrung ein, was dann eine Kaskade an weiteren negativen Erfahrungen nach sich zieht. Anscheinend neigen wir eher dazu, negative Erfahrungen als den Regelfall zu betrachten und positive als Ausnahme.
Wenn umgekehrt jemand über negative Erfahrungen berichtet, wird man wahrscheinlich nur einzelne positive Stimmen finden. Die Meisten werden zustimmen, kurioserweise auch Nicht-Behinderte, die über gar keine eigene Erfahrung verfügen.
Auch das wirkt sich auf diejenigen aus, die gerade erst behindert geworden sind. Da sie selbst keine Erfahrungen machen konnten, haben sie keine andere Wahl, als diese Äußerungen für bare Münze zu nehmen. Was aber macht es auf Dauer mit den Leuten, wenn sie auf Dauer nur negativen Aussagen hören?

Frisch Behinderte vom Internet fernhalten?

Gelegentlich erreichen mich Anfragen von Personen, die frisch erblindet sind oder ihren Angehörigen, in der Regel Hilfeanfragen von Leuten, die auf meine Website gestoßen sind. Ich leite sie zum Blindenverein weiter, da ich nicht geeignet oder legitimiert bin, anderen Personen in dieser Situation zu helfen. Doch häufig berichten sie mir, dass sie sich schon auf Website X oder im Forum Y umgesehen haben und ob die Gesellschaft tatsächlich so blindenfeindlich sei.
Ich muss die Leute dann erst mal beruhigen: Ja, es gibt viele Probleme und es gibt viele Personen, die nicht hilfsbereit sind. Doch im Großen und Ganzen funktioniert es und die meisten Leute sind hilfsbereit oder guten Willens, aber unsicher.
Faktisch könnte ich den Betroffenen aber mit wenigen Ausnahmen keine Website oder Blog empfehlen, wo sie sich einen anderen Eindruck verschaffen könnten – inklusive meinem, da ich mehr über Barrierefreiheit als über Blindheit schreibe.
Nebenbei fällt mir auf, wie humorfrei die deutsche Behinderten-Szene ist. Mit ein paar Ausnahmen – die machen das in der Regel beruflich – könnte ich wiederum keine Website empfehlen, die humorvoll mit dem Thema Behinderung umgeht. Ich tue das ein wenig auf Twitter, bin da aber meiner Wahrnehmung nach die Ausnahme.
Interessant wäre in dem Zusammenhang, welchen Effekt das auf junge Engagement-Willige mit Behinderung hat. Wenn sie sich auf InstGramm oder Twitter die Kanäle jetziger Aktivisten anschauen, wird sie das motivieren, sich im Bereich Behinderung zu engagieren? Oder werden sie sich anderen Themen wie etwa dem Klimaschutz zuwenden. Ich sehe durchaus die Gefahr, dass der Behindertenbewegung der Nachwuchs ausgeht.

Was tun?

Hier also meine Lösungsvorschläge:
1. Es braucht neben den legitimen negativen Berichten auch positive Erfahrungen. Ich behaupte mal, fast alle Berichterstatter könnten über mehr positive als negative Erfahrungen berichten. So ließe sich auch ein negativer Bericht mit einem positiven Fazit schließen. Es verzerrt die Realität, wenn einem 999 Mal geholfen wird, man aber über das eine Mal berichtet, wo das nicht geschehen ist.
2. Ein wenig Humor schadet nicht. Ab und zu mal eine Anekdote oder ein Witz helfen gerade neu Betroffenen. Damit ist übrigens kein Sarkasmus gemeint, den versteht nämlich keiner und lustig ist er auch nicht.
3. Wenn man keinen positiven Effekt erzielen kann, sollte man sich überlegen, ob man nicht auf den Bericht verzichtet. Positiv heißt in dem Zusammenhang, dass man eine positive Änderung anstößt, jemanden zum Nachdenken bewegt oder einen Menschen positiv erreicht, der bisher nicht informiert war. Nicht positiv ist, die Leute zu erreichen, die ohnehin schon bekehrt waren, möglichst viele Likes und Retweets oder viele zustimmende Kommentare zu bekommen. Hier mal ein schönes Zitat von Sokrates, das wohl jede Generation nach ihm unterschreiben würde:

Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.

Heißt, wann immer man sich negativ über die Gesellschaft äußert, wird man zustimmende Kommentare bekommen. Die „Früher-war-alles-besser“-Fraktion neigt wie wir alle dazu, die Vergangenheit zu verklären. Wir alten Hasen wissen das natürlich und können mit einem nachsichtigen Lächeln oder Kopfschütteln über solche Bemerkungen hinweg sehen. Doch sowohl die frisch Betroffenen, ihre Angehörigen, aber auch die vielen Unbeteiligten können das nicht ohne weiteres und gerade für sie sollten wir mehr Verantwortung übernehmen.
4. Sprecht mehr persönlich miteinander: Das befremdlichste Phänomen auf Facebook sind Berichte von Behinderten, die über negative Erfahrungen mit ihren Mitmenschen berichten. Fragt man nach, kommt heraus, dass sie mit den Personen, die den Ärger verursacht haben gar nicht gesprochen haben. Natürlich ist das eine Form des Coping, also des Umgangs mit angestautem Frust. Andererseits hat dieses Coping für die Leser des Beitrages eher den gegenteiligen Effekt, ihr Frust steigt, weil die Welt so ungerecht zu Behinderten ist.
Abschließend passend zu diesem Beitrag ein weiteres Zitat von Sokrates:

Plötzlich kam ein Mann aufgeregt auf ihn zu. „Sokrates, ich muss dir etwas über deinen Freund erzählen, der…“
„Warte einmal, „unterbrach ihn Sokrates. „Bevor du weitererzählst – hast du die Geschichte, die du mir erzählen möchtest, durch die drei Siebe gesiebt?“
„Die drei Siebe? Welche drei Siebe?“ fragte der Mann überrascht.
„Lass es uns ausprobieren,“ schlug Sokrates vor.
„Das erste Sieb ist das Sieb der Wahrheit. Bist du dir sicher, dass das, was du mir erzählen möchtest, wahr ist?“
„Nein, ich habe gehört, wie es jemand erzählt hat.“
„Aha. Aber dann ist es doch sicher durch das zweite Sieb gegangen, das Sieb des Guten? Ist es etwas Gutes, das du über meinen Freund erzählen möchtest?“
Zögernd antwortete der Mann: „Nein, das nicht. Im Gegenteil….“
„Hm,“ sagte Sokrates, „jetzt bleibt uns nur noch das dritte Sieb. Ist es notwendig, dass du mir erzählst, was dich so aufregt?“
„Nein, nicht wirklich notwendig,“ antwortete der Mann.
„Nun,“ sagte Sokrates lächelnd, „wenn die Geschichte, die du mir erzählen willst, nicht wahr ist, nicht gut ist und nicht notwendig ist, dann vergiss sie besser und belaste mich nicht damit!“

9 Gedanken zu „Warum wir konstruktiver mit Behinderung umgehen müssen“

  1. Behinderte machen nun mal hauptsächlich negative Erfahrungen, es wäre falsch, ihnen abzusprechen die Erlaubnis, diese Erfahrungen auch objektiv berichten zu lassen.

  2. Sind sie überhaupt behindert, würde mich mal interessieren, sie erwecken nicht den Eindruck, großartig Ahnung von Behinderung zu haben. Es heißt zum Beispiel Menschen mit Behinderung.

    1. Meine Frau sitzt im Rollstuhl, ich bin Gott-sei-Dank noch ausreichend fit. Bei unseren Fahrten durch die Stadt, Ausflügen usw. können wir immer wieder feststellen, dass die Menschen hilfsbereit sind, es gibt aber auch andere.. In diwesen Fällen springen oft die Hilfsbereiten mit besonderem Einsatz ein.
      Beispiel Zugfahrt: Am Umsteigebahnhof Mühldorf angekommen stellen wir fest, dass der Aufzug zur Brücke über die Bahnsteige nicht funktioniert – Reparatur. Frage an den Schaffner: Was können wir machen: Antwort: weiß ich auch nicht – und weg war er. Da kommt der Mann, der die Bremsen kontrolliert im Blaumann zu uns: Ich helfe Ihnen die Treppe runter und ein Jugendlicher mit Piercing kommt auch dazu. Zu dritt haben wir den Rollstuhl mit meiner Frau die Treppe runter und dann auf der anderen Seite wieder hoch getragen. Herzlichen Dank an die Helfer und dann waren sie schon wieder ganz bescheiden weg.. Nachsatz: Ich habe der Bahnverwaltung dann noch einen Brief geschickt mit „Hinweisen“, wie sich ihr zuständiges Personal in solchen Fällen verhalten sollte…
      Grundsätzlich treffen wir immer auf Hilfsbereite, manchmal auch auf „Hilfslose“, die einfach nicht wissen, wie sie helfen können, aber ohne weiteres motiviert werden können, zu helfen.

  3. Ich muss der Aussage dieses Beitrags doch zustimmen. Auch ich bin eher nicht mehr motiviert, mich für Behinderung zu engagieren. SMS einfach den Eindruck, dass man in den letzten zehn Jahren nicht erreicht hat, was einen nicht weiter motiviert, irgendwie weiter zu machen.

  4. Du sprichst da ein par interessante Punkte an. Das Thema Behinderung wird immer ambivalent bleiben, und ich denke, diese Ambivalenz gilt es auszuhalten. Ich erlebe es persönlich so, dass es Phasen gibt, in denen das Negative überwiegt und andere phasen, in denen es gut läuft. Es ist natürlich auch immer eine Frage der Zielgruppe, für die ein Beitrag bestimmt ist, wer soll und wird ihn hauptsächlich lesen? Ich teile zum Beispiel vieles auf meinem persönlichen Profil, weil ich Menschen im Kopf habe, die sonst die Info evtl. Nicht bekommen würden. Und noch kurz zum Umgang mit frisch Betroffenen: Ich weiß es aus eigener Erfahrung mit einer chronischen Krankheit: Der/die Betroffene ist für sich selbst verantwortlich. Hier können wir nur unterstützen, jedoch keine Verantwortung übenehmen. Was wir jedoch tun können, ist möglichst differenziert mit dem Thema Behinderung umgehen, und dazu gehören auch die positiven Dinge des Lebens und auch Humor.

  5. Ich kann den Beitrag leider nicht zustimmen. Die Welt und besonders Deutschland ist behindertenfeindlich. Überall auf der Welt werden Behinderte mit Respekt und Freundlichkeit behandelt, nur in Deutschland funktoniert das nicht.

  6. Ein Artikel der mir als selbst blinde Person sehr aus der Seele spricht. Wobei gefühlt dies eher wie ein Artikel klingt welcher von einer geburtsblinden Person geschrieben wurde. Negative Artikel über Blindheit welche es zu Hauf im Internet gibt, bringen uns im Leben nicht weiter. Denn egal ob im beruflichen oder privaten leben distanzieren sich viele Menschen dadurch von uns. Bestes negativ Beispiel ist das Integrationsamt welches versucht Menschen mit Behinderung auf Mitleitsbasis ins Berufsleben zu bringen und mit Lohnausgleich und so wirbt. Aber genau solche Maßnahmen sugerieren doch erst recht, das der neu eingestellte doch weniger wert ist. Warum kann man nicht einfach sagen: „Ich habe einen phantastischen Mitarbeiter für sie der ihr Unternehmen bereichern wird, anstelle bitte stellen sie ihn doch ein. Wir übernehmen auch sechs monate die Kosten dafür.

  7. Guter Beitrag. Ich denke Behinderungen kommen überall vor. Aber meist ist man damit beschäftigt den Kontakt zu vermeiden oder nichts dazu zu sagen. Egal ob es nun jemand im Rollstuhl ist oder einer mit grauer Star. Man muss den Menschen nehmen wie er ist und nicht die Krankheit.

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