Der deutsche Föderalismus ist historisch gewachsen und mag in vielen Fällen sogar seine Berechtigung haben. Doch gerade für behinderte Menschen erweist er sich häufig genug als Ärgernis.
Irgendwie schwerbehindert
Die Regeln, nach denen man schwerbehindert ist sind bundesweit gleich. Sie sind in der Versorgungs-Medizin-Verordnung, von Pastorentöchtern liebevoll VersMedV abgekürzt festgelegt. Soweit so schön. Sie beantragen also im Land NRW Ihren Schwerbehindertenausweis, können von Münster nach Köln oder umgekehrt umziehen und den Ausweis behalten. Aber ziehen Sie ein paar Kilometer weiter, sagen wir nach Osnabrück oder Koblenz, müssen Sie den Ausweis neu beantragen. Das klingt läppisch, in Wirklichkeit ist es aber so, als ob Sie den Ausweis vollständig neu beantragen würden. Ich fasse das mal zusammen: Land A erkennt Sie als schwerbehindert an, Land B muss Sie noch mal als schwerbehindert anerkennen, obwohl bundesweit die gleichen Regeln gelten. Bei gesetzlich Blinden ist das Ganze sogar noch relativ einfach, wobei es dennoch Monate dauern kann. Zum Beispiel für Menschen, die nach Berlin ziehen, wie ich mir habe sagen lassen. Bei nicht eindeutigen Fällen, also wenn der Schweregrad der Behinderung nicht ohne Weiteres festgelegt wird, kann sich das Verfahren Jahre hinziehen, wobei man in vielen Fällen Widerspruch einlegen muss, was den Prozess um Monate und manchmal Jahre verlängern kann.
Das Ganze ist ein überflüssiger bürokratischer Akt, der nebenbei gesagt nicht nur auf Seiten der behinderten Menschen, sondern auch bei den Behörden viele Ressourcen bindet, die sinnvoller investiert werden könnten.
Nicht eindeutig sind die Regeln, was die Gültigkeit des Behindertenausweises angeht. Als ich in den Nuller Jahren nach Hessen zog, war mein NRW-Ausweis unbefristet. Falls der Messias nicht zurückkehrt, ist bei meiner Behinderung absehbar keine Besserung zu erwarten. Im Land Hessen glaubt man jedoch anscheined an dessen baldige Rückkehr, weshalb der Ausweis auf fünf Jahre befristet wird. Aber natürlich erst, nach dem ich einen deutschen Paß hatte, vorher wurde er auf ein Jahr befristet, weil meine Aufenthaltserlaubnis keine fünf Jahre gültig war, nebenbei bemerkt war ich damals portugiesischer Staatsbürger, also Bürger der Europäischen Gemeinschaft, wie sie damals noch hieß und hatte 20 Jahre in Deutschland gelebt.
Der Wahnsinn ist damit aber noch lange nicht beendet. Wenn Sie nämlich Integrationshilfen wie Arbeitsassistenz, persönliche Assistenz oder Ähnliches vom Land erhalten, dürfen Sie das am neuen Wohnort auch neu beantragen. Muss ich dazu sagen, dass auch diese Anträge Monate oder Jahre dauern können und das kaum ein Arbeitgeber bereit ist, das mitzumachen? Das Prozedere bei der persönlichen Assistenz ist langwierig, selten bekommt man im ersten Anlauf die Stunden bewilligt, die man tatsächlich benötigt. Hoffen wir einmal, dass es mit dem Bundesteilhabegesetz einfacher wird.
Die sozialen Unterschiede
Und die Geschichte ist leider noch immer nicht zu Ende: Denn die Hilfen in den Bundesländern sind sehr unterschiedlich. Meines Wissens ist die Blindenhilfe die einzige finanzielle Hilfe, die bundesweit gewährt wird. Die Blindenhilfe ist einkommensabhängig: Nur wer Sozialhilfe, ALG II oder gar nichts erhält hat Anspruch auf die Blindenhilfe in voller Höhe. In Nordrhein-Westfalen wird die Blindenhilfe in voller Höhe als einkommens-unabhängiges Blindengeld ausgezahlt. Manche Länder zahlen die Hälfte als einkommens-unabhängiges Blindengeld, wer Einkommen hat, muss sich also mit der Hälfte dessen begnügen, was er in NRW erhalten würde.
Schlimmer sieht es jedoch bei anderen Hilfen aus: Das ohnehin nicht besonders üppige Sehbehindertengeld wird nur in wenigen Ländern gezahlt.
Gleiches gilt für das Taubblindengeld. Eigentlich hätten die Hilfen für Taubblinde mit der Einführung des Merkzeichens TBl verbessert werden müssen. Finanzielle Hilfen gibt es jedoch nur in wenigen Bundesländern.
Auch das – nebenbei lächerlich geringe – Gehörlosengeld gibt es nur in einigen Bundesländern. Eventuell kann man dort Sachleistungen beantragen, die aber natürlich immer zweckgebunden und bürokratisch aufwendig zu beantragen sind.
Der Föderalismus schränkt unsere Rechte ein
Nebenbei gesagt sind die zuständigen Stellen auch sehr unterschiedlich. Ich habe mit dem Landschaftsverband Rheinland und dem Landeswohlfahrtsverband Hessen relativ gute Erfahrungen gemacht, was aber nicht unbedingt repräsentativ ist. Dem Vernehmen nach scheinen andere Verwaltungen wie das LAGESO in Berlin deutlich schwieriger zu sein. Man muss sich also noch mit unterschiedlichen bürokratischen Kulturen herumschlagen.
Das Ärgerlichste ist, dass das alles eigentlich nicht sein muss. Wie oben erwähnt gilt die VersMedV bundesweit. Die Kosten für behinderte Menschen hängen eher von der persönlichen Situation als vom Wohnort ab.
Ich bin kein Jurist, aber meines Erachtens verstößt die aktuelle Situation gleich gegen mehrere Prinzipien des Grundgesetzes. Zum Einen ist die Regierung verpflichtet, gleichwertige Lebensverhältnisse sicherzustellen. Das ist nicht gegeben, weil das ohnehin geringe Sehbehinderten- und Gehörlosengeld oft gar nicht gezahlt wird, ebenso wie das Taubblindengeld. Weiterhin dürfen wir uns zwar niederlassen, wo wir wollen – sofern wir eine bezahlbare barrierefreie Wohnung finden – doch ist diese Möglichkeit durch den bürokratischen Aufwand wie oben geschildert eingeschränkt und kann finanziell nachteilig sein. Würde ich fünf Kilometer weiter südlich ziehen,müsste ich meinen Schwerbehindertenausweis beim Land Rheinland-Pfalz neu beantragen, würde weniger Blindengeld bekommen und natürlich kann es immer sein, dass das Land bestimmte Behinderungen gar nicht anerkennt, wodurch ich Nachteilsausgleiche verlieren würde.
Ein Umzug ist selten anstrengungsfrei, doch wird er durch die Bürokratie unnötig schwer gemacht.
Ich bin seit 1982 im Rollstuhl mit 100% Schwerbehinderung, aG, h und diversen anderen Merkmalen im Schwerbehindertenausweis. Seit 1982 erhielt ich Pflegegeld vom Versorgungsamt.
Ich zog dann 1985 innerhalb meines Bundeslandes Bayern um und musste am neuen Wohnort den Ausweis neu beantragen. Dies ging relativ problemlos. Jedoch war die Zahlung des Pflegegelds während der Bearbeitungszeit unterbrochen (2-3 Monate). Ich brauchte also ein gewisses finanzielles Polster, um diese Zeit zu überbrücken. Es folgte dann eine Nachzahlung.
Der Ausweis war immer für 5 Jahre gültig, aber die Verlängerung war ohne Probleme.
Irgendwann kam dann die Pflegeversicherung und ich wurde, nach einigem juristischen Geplänkel, in Pflegestufe 2 eingestuft.
2006 zog ich dann von Bayern nach NRW. Der dortige Ableger meiner Krankenkasse teilte mir per Bescheid mit, dass ich die Pflegestufe verliere ( also von 2 auf 0). Ich nahm mir einen Anwalt und die ganze Sache ging bis vor das Sozialgericht. Der Richter entschied hier, dass ich ein sog. Altfall bin (ich bekam ja schon Pflegegeld vom Versorgungsamt), und somit die Pflegestufe 2 nicht verlieren kann. Das war mein Glück. Wer weiß wie das ausgegangen wäre, wenn ich noch nicht so lange im Rollstuhl sitzen würde. Aber für die ganze Zeit des Verfahrens stellte die Krankenkasse die Pflegegeldzahlung ein (ca. 1 Jahr). Ich habe also während dieser Zeit die Pflegekosten selbst getragen. Danach kam dann die Nachzahlung von der Krankenkasse.
2010 zog ich innerhalb NRWs um und als ich an meinem neuen Wohnort meinen Behindertenausweis verlängern wollte, erhielt ich ohne Antrag und Nachfragen den Status „unbegrenzt“.
Seit 2018 bin ich wieder in Bayern. Die Krankenkasse verhält sich still (ich bin im neuen Pflegesystem automatisch auf Pflegegrad 3 migriert worden). Ich hoffe, mein Papier-Behindertenausweis hält noch lange durch…
Wenn ich eines gelernt habe dann, dass man nie wissen kann, was bei einem Umzug passiert. Und ich empfehle jedem, ein ordentliches finanzielles Polster zur Verfügung zu habe