Da ich in letzter Zeit öfter nach dem Einfluss des Corona-Virus auf Blinde gefragt wurde – und dank einem halben Dutzend abgesagter Workshops viel Zeit habe – möchte ich diese Frage gerne ausführlich beantworten. Informationen zum Corona-Virus, COVID19 und Barrierefreiheit.
Ein kleines Update: Seitdem ich diesen Beitrag geschrieben habe, hat sich die Situation fast stündlich zugespitzt: Ich möchte euch bitten, wenn ihr die Möglichkeit habt und Blinde kennt, ihnen Hilfe anzubieten: Beim Einkaufen, bei Besorgungen oder auch im Haushalt. Niemand erwartet von euch, dass ihr eure Gesundheit riskiert, tut einfach das, was euch möglich ist.
Unter den behinderten Menschen gehören Blinde nicht zu den besonders stark gefährdeten Gruppen. Besonders stark gefährdet sind Menschen mit Lungen-Erkrankungen, mit generell geschwächtem Immunsystem sowie Leute, die auf Assistenz angewiesen sind, die also soziale Kontakte nicht vermeiden können.
Besonders stark gefährdet sind außerdem Gehörlose und Menschen, die auf Leichte Sprache angewiesen sind. Hier gibt es ein Informations-Defizit, so dass diese Personengruppen bislang schlecht mit Informationen versorgt wurden.
Für Blinde gibt es hingegen kein Informationsdefizit. Wir haben Zugang zum Internet, zum Fernsehen, zum Radio und natürlich gibt es moderne Kommunikationskanäle wie WhatsApp und Co, wo wir uns austauschen können.
Erhöhtes Infektionsrisiko
Generell ist das Infektionsrisiko für Krankheiten bei Blinden erhöht, wenn diese Krankheiten durch Schmierinfektion übertragen werden. Allerdings spielt die Schmierinfektion beim Corona-Virus keine so große Rolle.
In der Regel haben wir keinen PKW, sind also zu Fuß und per ÖPNV unterwegs und müssen Ampel-Knöpfe, Haltestangen und alles andere anfassen, was viele andere Menschen angefasst haben. So weit, so normal.
Allerdings müssen wir deutlich mehr anfassen als Sehende: Dazu gehören die Sitze im ÖPNV, die Produkte im Supermarkt – anders als durch Betasten können wir sie nicht unterscheiden – und so weiter. Ich zum Beispiel fasse bei normalen Türen als zusätzliche Orientierung immer den Türrahmen an, um mir nicht noch mehr blaue Flecken an Armen und Schultern zu holen. Durch meine Augenerkrankung tränen meine Augen permanent, so dass ich mir natürlich ins Gesicht fassen muss.
Wahrscheinlich gibt es noch unzählige andere Sachen, die wir anfasse, ohne es aktiv zu bemerken. Das heißt aber auch, dass wir nicht nur unser eigenes Infektionsrisiko erhöhen, sondern auch das Infektionsrisiko für Andere, wenn wir selber krank sind.
Wie uns die Maßnahmen treffen
Tatsächlich sind es einige Maßnahmen, die mit dem Corona-Virus eingeführt wurden, die uns treffen.
Social Distanzing ist leicht gesagt, wenn man nicht auf verbale Kommunikation angewiesen ist. Wenn jemand mich aus zwei Metern Entfernung anspricht, bekomme ich das aufgrund meiner Höreinschränkung gar nicht mit. Manchmal fällt mir erst hinterher auf, dass ein Rufer mich gemeint haben könnte: Wenn man auf jeden Ruf reagieren würde, der in der Umgebung erfolgt, würde man nie irgendwo ankommen.
Ich habe meine Draußen-Aktivitäten auf das Nötigste beschränkt. Vor dem Virus habe ich keine Angst. Allerdings ist es enorm schwierig, Distanz zu halten, wenn man nichts sieht. Für einen Blinden können alle Aktivitäten kompliziert sein, aber Fragebögen auszufüllen, sich die Hände zu desinizieren, Abstand zu anderen Leuten zu halten – das verlangt uns so viel ab, dass wir es lieber lassen.
Eine weitere Herausforderung kommt hinzu: Mittlerweile gibt es Warteschlangen vor Apotheken und Supermärkten. Es sind physische Barrieren etwa aus Einkaufswagen aufgebaut worden, durch die man sich durchlavieren muss. Beides ist für Blinde eine zusätzliche Herausforderung.
Warum Blinde nicht krank werden möchten
Als blinde Person möchte man noch weniger gerne krank werden als Andere. Wenn man schon eine Behinderung hat, möchte man andere Komplikationen vermeiden. Dieses Jahr hat mich seit Jahren das erste Mal eine heftige Grippe erwischt, so dass ich tatsächlich freiwillig zuhause geblieben bin. Da ich viel zu Fuß gehe, war ich durch die Verschleimung der Lunge stark eingeschränkt und schon nach 15 Minuten total erschöpft, in gesunden Zeiten kann ich problemlos 2-3 Stunden am Stück gehen. Wenn die Nase eingeschränkt ist, funktioniert der Geruchsinn gar nicht mehr, wodurch eine sekundäre Orientierungshilfe verloren geht.
Und natürlich besteht immer die Gefahr einer Mittelohr-Entzündung. Eine schwere Erkrankung erhöht immer die Gefahr von weiteren Infektionen, die dann schlimmer als die erste Krankheit ausfallen können. Ohne Gehör, das kann man uneingeschränkt sagen, sind selbst die Blinden mit Sehrest praktisch aufgeschmissen.
Corona erschwert für uns auch die Kommunikation in Arztpraxen und Krankenhäusern. Wer keine Schutzkleidung trägt, kann sich zur Not noch ein wenig mit nonverbaler Kommunikation behelfen, bei Blinden funktionieren aber Gesten überhaupt nicht.
Einige Blinde dürfte besonders treffen, dass die Lieferdienste für Lebensmittel mittlerweile eine lange Wartezeit haben. Bei einigen Rewes sollen es mittlerweile 14 Tage statt 2-3 Tage sein. Viele Blinde nutzen den Lieferservice, da das Einkaufen in Supermärkten für uns generell schwierig ist. Ich hoffe natürlich, dass die Betroffenen auf anderem Wege Hilfe gefunden haben.
Soziale Isolation
Viele – nicht alle – Blinden sind wie viele andere behinderte Menschen auch aufgrund ihrer persönlichen Situation, wegen mangelnder Unterstützung oder Barrierefreiheit sozial isoliert. Mit ein wenig Galgen-Humor könnte man sagen, sie müssten erst soziale Kontakte aufbauen, damit sie ihre sozialen Kontakte einschränken könnten.
Das heißt aber auch, dass es an einem Netz von sozialen Unterstützungen fehlt. Eltern, Verwandte, Partner, Geschwister – sie alle können uns helfen, wenn wir in Quarantäne sind. Sie können für uns einkaufen, uns zum Arzt begleiten, uns Medikamente besorgen und so weiter. Wer das nicht hat, ist vollständig von staatlichen oder sozialen Hilfen etwa von den Wohlfahrtsverbänden abhängig. Auch für diese Menschen hoffe ich, dass sie die Hilfe bekommen, die sie brauchen. Über die psychischen Folgen einer sozialen Isolation brauchen wir denke ich nicht zu sprechen.
Blinde und das Home Office
Natürlich sind auch viele Blinde berufstätig. Als Internet-Redakteur könnte ich meine Arbeit auch auf einer einsamen Insel in der Karibik machen – wenn die Insel Internet hat.
Andererseits rächt es sich heute einmal mehr, dass viele der virtuellen Konferenz-Lösungen pseudo-barrierefrei sind. Es ist leider der übliche Schwachsinn, irgendein Sehender hat irgendein gehyptes Testverfahren durchgeführt und hat gesagt, das Ergebnis sei barrierefrei. In der Praxis funktioniert es dann aber mäßig bis gar nicht.
Manche Dinge sind aber generell schwierig: Es ist relativ schwierig, einer PowerPoint-Präsentation innerhalb so einer Lösung zu folgen. An anderer Stelle habe ich Tools zur barrierefreien Online-Kommunikation gesammelt.
Generell bin ich ein Fan von Home Office: Weniger Gependel, was auch Blinden gut tut und der Umwelt hilft. Wenn das Klima sprechen könnte, würde es „Danke Corona“ sagen. Andererseits darf das nicht dazu führen, dass Blinde in ihrer Arbeitsfähigkeit eingeschränkt werden und das ist leider bei vielen Lösungen aktuell der Fall.
Besonders gefährdete Blinde
Generell ist man als Blinder von dem oben gesagten abgesehen keine besonders gefährdete Gruppe. Allerdings gehören viele Blinde dennoch zu den besonders gefährdeten Gruppen. Ein Teil der Erblindungen wurde durch Diabetes Typ II verursacht, Diabetiker – insbesondere insulin-pflichtige – werden generell zu den gefährdeten Gruppen gezählt.
Außerdem kommt eine Blindheit selten alleine: Häufig liegen andere chronische Erkrankungen vor, die das Risiko erhöhen können. Last not least sind die meisten blinden Menschen Senioren, die ebenfalls zu den besonders gefährdeten Gruppen zählen.
Was sollen wir tun
Leider gibt es für uns keine besonderen und praktikablen Schutzmaßnahmen, wir müssen also das tun, was die Sehenden auch tun und insbesondere unnötige Kontakte und Außentätigkeiten vermeiden. Inzwischen hat der DBSV spezielle Tipps für Blinde zu Corona veröffentlicht.
Vielleicht hat Corona zumindest eine positive Folge: Das wir in Zukunft stärker auf den Schutz vor Infektionskrankheiten achten. Die Grippe etwa wird uns so oder so erhalten bleiben und sie kostet jedes Jahr Tausenden das Leben. Bis heute habe ich nicht darüber nachgedacht, wie viele Menschen wir wohl unabsichtlich infiziert haben, wie viele von ihnen andere infiziert haben und wie viele Menschen wie dadurch indirekt auf dem Gewissen haben.
Mir stellt sich die Frage, warum wir zumindest einen Teil der Schutzmaßnahmen, die heute überall zu finden sind nicht schon vor Jahren ergriffen haben: Das regelmäßige Desinfizieren von Türklinken, Knöpfen in den Bussen, Armaturen in öffentlichen Toiletten, das gründliche Händewaschen und so weiter. Wie es aktuell ist weiß ich nicht, aber bis vor einigen Jahren galten deutsche Kliniken als Schleudern für resistente Keime. Und wir sind unvorsichtig gewesen, was das präventive Impfen angeht. Wir haben das gelassen, weil wir selber kaum krank werden und haben dadurch andere gefährdet, die sich vielleicht nicht impfen dürfen. Vielleicht braucht die Menschheit diesen Arschtritt, den uns Corona verpasst.
Mein Appell an uns alle: Wenn die harten Maßnahmen erst einmal vorbei sind, lasst euch impfen, wascht euch regelmäßig die Hände, bleibt zuhause, wenn ihr krank seid und helft Anderen, denen es nicht so gut geht wie euch.
Ein .umfassender Beitrag. Danke dafür.