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Werden Blinde von psychosomatischen Behandlungen ausgeschlossen?

Wegweiser mit dem Wort PsychotherapieManchmal glaube ich, dass ich im falschen Jahrhundert gelandet bin. Es kann doch im Jahr 2021 nicht möglich sein, dass es für Blinde kaum eine Chance auf die Behandlung in einer psychosomatischen Klinik gibt. Und doch scheint das bittere Realität zu sein.
Da ich selber bisher nicht betroffen bin, kann ich nur indirekt berichten. In der Rückschau fällt mir aber auf, dass ich solche glaubhaften Berichte schon häufiger von verschiedenen Personen gelesen habe.
Es geht darum, dass psychosomatische Kliniken aus Prinzip blinde Patient:Innen ablehnen. Dabei werden alle möglichen Gründe vorgebracht. Im Endeffekt geht es aber darum, dass das Klinikpersonal den blinden Patient:Innen nicht helfen kann oder will. Sind Blinde alleine in der Klinik, das dürfte bei Erwachsenen die Regel sein, brauchen sie sehr wahrscheinlich Hilfe bei der Orientierung auf dem Gelände und im Speisesall. Wahrscheinlich brauchen sie auch Hilfe oder spezielle Methoden bei der Therapie, mangels genauer Kenntnis der Therapie-Methoden kann ich das allerdings nicht beurteilen.
Anlass für diesen Beitrag ist ein Bericht in einer Facebook-Gruppe für Blinde und Sehbehinderte. Dort berichtete eine Teilnehmerin, dass sie wegen ihres Blindenhundes Probleme habe, einen Therapieplatz zu finden. Sie werde wegen ihres Blindenhundes abgelehnt, obwohl das Mitbringen normaler Patienten-Hunde generell erlaubt sei. Schnell meldeten sich andere Blinde zu Wort, dass wohl nicht der Hund, sondern die Blindheit der Grund für die Ablehnung sei. Nebenbei sei erwähnt, dass seit der Aktualisierung des Bundes-Teilhabegesetzes seit dem 1.7.2021 die Regeln zum Mitbringen von Assistenzhunden verbessert wurden.
Leider kann ich nicht auf die Gruppe verlinken bzw. daraus zitieren, da es sich um eine geschlossene Facebook-Gruppe handelt und ich nicht weiß, ob die Personen öffentlich genannt werden wollen.
Wenn das aber so stimmt und ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln, dann ist das Verhalten dieser Kliniken unentschuldbar. Diese Kliniken sollen Menschen mit psychischen Erkrankungen unterstützen, aber sie lehnen hilfsbedürftige Personen ab aus keinem anderen Grund als dass sie ihnen zu viel Arbeit machen. Es sind auch noch Personen von Ablehnung betroffen, die psychische Probleme haben und deshalb wahrscheinlich auch nicht die Kraft haben, sich rechtlich zur Wehr zu setzen und denen eine Odyssee auf der Suche nach einer Klinik zugemutet wird, die sie aufnehmen möchte.
Dass sich einzelne Kliniken so verhalten, hat mich weniger überrascht. Ablehnung gehört für Blinde leider zum traurigen Alltag. Doch dass diese Ablehnung offenbar System hat, war mir neu. Das ist umso bitterer, weil es sich hier um helfende und heilende Berufsgruppen handelt, von denen man so ein Verhalten am wenigsten erwarten würde.
Leider kann ich die rechtliche Situation schwer einschätzen. Es dürfte schwierig sein, einer Klinik Diskriminierung nachzuweisen. Sie werden sich schriftlich und damit nachweisbar selten so äußern, dass ihnen eine Diskriminierung nachgewiesen werden kann. Ärzt:Innen und Kliniken dürfen sich ihre Patienten – soweit mir bekannt grundsätzlich selbst aussuchen bzw. sie ablehnen, wenn es nicht gerade um akute Notfälle geht. Wenn nicht gerade irgendwo schriftlich niedergelegt ist, dass Blinde grundsätzlich nicht aufgenommen werden, dürften Diskriminierungsklagen schwierig sein.
Psychische Belastung bei Blinden

Warum Sie nicht bei Haema Blut spenden sollten – Diskriminierung von Blinden und Sehbehinderten

Rote BlutkörperchenUnser Fazit vorneweg: Wenn Sie etwas gegen Diskriminierung Behinderter haben, sollten Sie nicht bei Haema Blut spenden oder Plasma abgeben. Das Unternehmen diskriminiert offen Behinderte bei der Blutspende.
Haema ist ein privates Unternehmen, welches an mehreren Standorten Zentren zur Blutspende unterhält. Neulich habe ich von einer blinden Freundin aus Bonn erfahren, dass sie bei der Blutspende aufgrund ihrer Blindheit abgelehnt wurde. Da wollte ich einmal nachfragen.
Also einmal in der Bonner Niederlassung angerufen und es mir bestätigen lassen. Blinde, besser gesagt Personen, welche den Eingangs-Fragebogen nicht selbst ausfüllen können werden generell abgewiesen. Das heißt, wenn ich das richtig sehe, dass auch Personen mit geringen Lese-Fähigkeiten, Deutsch-Kenntnissen oder einem zu geringen Sehvermögen abgelehnt werden. Sie alle können den Fragebogen nicht selbständig bearbeiten.
Die Unterstützung durch eine dritte Person ist nicht gestattet, da es sich teils um intime Fragen handle. Die Mitarbeitenden von Haema können ebenfalls nicht helfen, weil ihnen das zu viel Aufwand ist, so die sinngemäße Aussage des Mitarbeiters, mit dem ich gesprochen habe.
Haema schreibt dazu auf ihrer Seite:

Menschen mit einer starken Sehbeeinträchtigung dürfen zumeist kein Blut spenden. Es geht hierbei keinesfalls darum, auszuschließen oder zu diskriminieren… Im Vorfeld einer jeden Blutspende gibt es Fragebögen und viel Administratives auszufüllen. Da wir diese Unterlagen nicht in Blindenschrift vorliegen haben, gäbe es keine Möglichkeit für die betreffende Person, alles korrekt lesen und ankreuzen zu können. Quelle

Ach so, sie wollen gar nicht diskriminieren, dann ist ja alles gut. Die Anmerkungen zur Blindenschrift zeigen, dass man sich mit dem Thema Blindheit nicht beschäftigt hat oder beschäftigen möchte. Ein kleiner Ausflug ins 21. Jahrhundert würde der Einrichtung nicht schaden.
Mit den Diskriminierungen ist das so eine Sache. Es gibt erlaubte und nicht-erlaubte Diskriminierungen. An dieser Stelle der Hinweis, dass ich mich nur oberflächlich mit dem Thema auskenne und die Infos auf meinem Laien-Wissen zum Allgemeinen Gleichbehandlungs-Gesetz basieren.
Generell gibt es immer die Möglichkeit, einzelne Personen abzuweisen. Wenn eine blinde Person sich zum Beispiel daneben benommen oder einen der Mitarbeitenden beleidigt hat, kann diese Person als Kunde abgelehnt werden. Eine Diskriminierung wäre es, wenn ich aufgrund dieses Verhaltens alle blinden Personen nicht bedienen würde.
Bei sogenannten Massen-Geschäften, also Dienstleistungen, die für zahlreiche unterschiedliche Personen erbracht werden, sind unbegründete Diskriminierungen von bestimmten Gruppen generell verboten. Die Blutspende dürfte so ein Massen-Geschäft sein. Also liegt hier eine Diskriminierung durch Haema vor. Bleibt die Frage, ob die Diskriminierung begründet ist.
Generell ist es so, dass bestimmte Gruppen von der Blutspende auch gesetzlich ausgeschlossen sind. Das sind Personen, die zu jung oder zu alt sind, die bestimmte Medikamente einnehmen, eine ansteckende Krankheit haben und so weiter. Das ist sachlich begründet, weil etwa gesundheitliche Aspekte vorliegen, die den Spendenden oder den Empfangenden gefährden könnten.
Es gibt Blinde, die aus solchen Gründen nicht spenden dürfen, aber das trifft nicht auf alle Blinden zu und ist ja auch nicht die Begründung von Haema.
Die von Haema angeführten Gründe können mich allerdings nicht überzeugen. Es gibt ein paar Fragen zum Thema Drogen-Missbrauch oder sexuelle Aktivitäten, wir sind aber nicht mehr in den 50ern, wo man über so etwas nicht sprechen konnte. Doch tun wir einmal so, als ob dem so wäre und der Ausschluss einer Assistenz legitim wäre.
Dann gäbe es zumindest die Möglichkeit, dass ein Mitarbeitender von Haema die Unterstützung übernimmt. „Keine Zeit“ ist mit Sicherheit kein legitimer Ausschluss-Grund. Mit diesem Argument könnte man Blinde von praktisch allem ausschließen – vom Einkauf im Supermarkt bis zur Behandlung bei einer Ärzt:In. Grob geschätzt dauert es maximal fünf Minuten, so einen Fragebogen gemeinsam auszufüllen. Die Einrichtung verdient ihr Geld damit, dass sie das Blut bzw. dessen Bestandteile verkauft. Es dürften schon ein paar hundert Euro pro Spender:In zusammenkommen, ansonsten würde sich ein Privat-Unternehmen nicht so stark in diesem Bereich einbringen.
Nach meiner Einschätzung handelt es sich also um eine nicht-erlaubte Diskriminierung von Blinden durch Haema. In einer Zeit, in der Blutspenden noch knapper sind als ohnehin schon ist das nicht nachvollziehbar.
Hinzu kommt, dass Haema hier tatsächlich die Ausnahme ist. Ich habe in meiner Studentenzeit jahrelang beim Klinikum Marburg Plasma und Blut gespendet und nie ein Problem gehabt. Auch das DRK sagt explizit, dass Spenden durch behinderte Menschen willkommen sind. Warum also Haema? Zum Einen geht es um Grundsätzliches. Wenn ein Privat-Unternehmen Blinde diskriminiert, wird ein Anderes ebenso argumentieren. Speziell für Bonn gilt, dass Haema den besten Standort direkt am Hauptbahnhof hat. Das DRK hat in unserem Stadtteil keinen Standort und das Gelände der Uni-Klinikum entspricht einem kleinen Dorf, da irgendwas zu finden ist schwierig.
Persönlich würde ich nicht bei Haema spenden. Ich fand es immer unangemessen, den medizinischen Bereich durchzu-kapitalisieren. Durch das Verhalten gegenüber Blinden ist meine negative Meinung dazu noch mal unterstrichen worden.
Richtig, es gibt kein Recht auf Blutspende. Es ist auch sinnvoll, einzelne Personen ohne Begründung ablehnen zu können. Niemand möchte das Blut von jemandem haben, der eventuell eine Infektion hat und diese verschweigt, um an die Aufwandsentschädigung zu kommen. Das heißt aber nicht, dass ich pauschal eine Gruppe von Menschen ablehnen kann, ohne dass es dafür eine medizinische oder gesetzliche Begründung gibt. Es ist Diskriinierung, ebenso wie der pauschale Ausschluss von Homosexuellen eine Diskriminierung ist.
Haema hat generell eine fragwürdige Policy bei der Aussortierung von Menschen. Es gibt also keinen Grund, bei dieser Einrichtung zu spenden. Wer etwas für Gleichberechtigung übrig hat, sollte beim DRK, dem Klinikum oder einer anderen Stelle spenden.
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Diversity und Inklusion – bleiben behinderte Menschen außen vor?

bunte FigurenBei mir verstärkt sich in letzter Zeit der Eindruck, dass behinderte Menschen in der Diskussion um Diversity in Organisationen bestenfalls am Rande oder gar nicht vorkommen. Ich denke, dass hier zu kurz gedacht wird und möchte das in diesem Beitrag näher ausführen.
Wenn ich mir die Diskussionen so anschaue, die auf Twitter oder in einschlägigen XING-Gruppen so stattfinden, ist Diversity ein Thema, bei dem es vor allem um die Gleichberechtigung von Frauen geht. In der zweiten Reihe stehen dann Gruppen wie ältere Menschen, Migranten und Menschen mit anderen sexuellen Orientierungen. Behinderte Menschen kommen in diesen Diskussionen überhaupt nicht vor.
Nun kann es nicht darum gehen, eine benachteiligte Gruppe gegen die andere auszuspielen. Was zum Beispiel die Gleichberechtigung von Frauen angeht, ist Deutschland vergleichsweise weit zurück, vergleicht man die Situation etwa mit Skandinavien: Lohn-Ungleichheit, Diskriminierung bei Beförderung, Benachteiligung von Müttern – wir können solche Probleme endlos aneinanderreihen. Bei der Gleichberechtigung der Frauen wie der anderen Gruppen muss wesentlich mehr passieren als bisher, das Tempo des Fortschritts ist zu langsam.
Aber immerhin diskutieren wir darüber. Währenddessen macht die Diversity-Policy in Sachen Behinderung kaum Fortschritte. Die Zahl der Aktionspläne zur Inklusion sind überschaubar. Gibt es überhaupt eine Organisation in Deutschland, die sich mit Disability Mainstreaming beschäftigt? Wann hat das letzte Mal eine große Körperschaft oder Organisation einen Aktionsplan verabschiedet?
Das ist relevant, weil die Inklusion von behinderten Menschen leider komplexe und langwierige Maßnahmen erfordert. Initiere ich jetzt Maßnahmen wie die barrierefreie Umgestaltung meines Gebäudes, werden diese vielleicht in einigen Jahren umgesetzt. Gleiches gilt für die digitale Infrastruktur, eine IT-Landschaft wird eher in Jahrzehnten als in Jahren barrierefrei.
Wie immer gibt es hier löbliche Ausnahmen: Dazu gehören Boehringer Ingleheim oder die Commerzbank. Aber Ausnahmen sind Ausnahmen. Im öffentlichen Dienst wäre mir auf Anhieb kein positives Beispiel bekannt, außer den Einrichtungen, die ohnehin ihren Tätigkeitsschwerpunkt auf Behinderung haben und selbst die haben noch Luft nach oben.
Das Problem trifft vor allem Menschen, die von Geburt an behindert sind. Allerdings habe ich den Eindruck, dass die Organisationen auch nicht darauf vorbereitet sind, dass ihre Belegschaft immer älter wird und bald viele altgediente Mitarbeiter:Innen mit Behinderungen zu kämpfen haben werden. Ich sehe das daran, wie schwer sich Deutschland mit der barrierefreien Umgestaltung der IT, der Gebäude oder des öffentlichen Personenverkehrs tut.

  • Einführung in Behinderung, Behinderten-Wesen und Inklusion
  • Einführung in die inklusive Kommunikation
  • Warum Konflikte zur Inklusion dazu gehören

    Seitdem ich mich mit dem Thema Inklusion beschäftige – es begann vor ca. 10 Jahren – haben die Konflikte zwischen behinderten Menschen und der Gesellschaft stetig zugenommen. Konflikte gelten generell als etwas Negatives, sie sind aber tatsächlich ein gutes Zeichen. Hier erfahren Sie, warum das so ist.
    Die Idee zu diesem Beitrag kam mir nach der Lektüre des Buches von Aladin El-Mafaalani namens Das Integrationsparadox: Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt. Es sei euch hiermit als Lektüre empfohlen, auch wenn es darin um Migration und nicht um Behinderung geht. Es ist auch als Hörbuch in den Hörbüchereien

    Früher war gar nichts besser

    Schaut man sich die Vergangenheit an, gab es praktisch keine größere Veränderung, die ohne Konflikt ablief. Ein paar Schlagworte mögen reichen: Die verkrusteten Strukturen der BRD wurden erst durch die 68er aufgebrochen, die heutigen Frauen-Generationen profitieren maßgeblich von Kämpfen, die in den 70er und 80er Jahren ausgefochten wurden, die Gleichberechtigung der Afroamerikaner geht auf die gewaltlosen und auch gewalttätigen Proteste der 60er und 70er Jahre zurück. Die Verbesserungen der Arbeitsbedingungen gehen maßgeblich auf die teils sehr blutigen Proteste der Arbeiter zu verschiedenen Zeiten zurück.
    Meine These ist, dass man nicht nur eine Regierung braucht, die bereit ist, Veränderungen umzusetzen. Sie braucht auch den sozialen Druck, der auch die öffentliche Meinung in diese Richtung kippen lässt. Insofern kann einer umwelt-bewussten Regierung nichts Besseres als Fridays for Future und Extintion Rebellion passieren. Es scheint eine Art tipping Point zu geben, ab diesem Zeitpunkt wird der Druck auf die Regierung so groß, dass sie zum Handeln gezwungen ist.
    Auch die Dynamik, dass ein schlechtes Gesetz wie das aktuelle Klimapaket nachgebessert werden muss, kommt uns bekannt vor, Stichwort Bundesteilhabegesetz. Man könnte meinen die Regierungen probieren aus, was geht und lassen sich erst durch noch mehr Protest dazu bewegen, ein halbwegs vernünftiges Gesetz auf die Beine zu stellen. Nun ja, das aktuelle BTHG ist nicht das Gelbe vom Ei, aber der vorherige Entwurf war deutlich schlimmer.
    Früher gab es schlicht deshalb weniger Konflikte, weil sich Behinderte und Nicht-Behinderte nicht begegnet sind. Es gibt nach wie vor die Behinderten-Einrichtungen, in denen man sein ganzes Leben verbringen kann: Man wohnt im Wohnheim, geht in die Werkstatt arbeiten, macht abends den Nährkus, geht in die kleine Kneipe und kauf Produkte des täglichen Bedarfs im Kiosk ein, alles auf dem gleichenGelände. Viele Blinde legen praktisch keine Strecken zurück außer von Zuhause zur Arbeit und zurück. Da die Förderschulen oft in der Großstadt sind, werden die Schüler per Fahrdienst dort hin gebracht und abgeholt. Die einzigen Icht-Behinderten, auf die man trifft sind die Mitarbeiter dieser Einrichtungen.
    Mit anderen Worten: Behinderte Menschen waren und sind teilweise bis heute in der Öffentlichkeit praktisch unsichtbar. Wo man aber nicht aufeinander trifft, gibt es auch keine Konflikte.
    Solche Dinge wie in diesem Video wären also früher nicht passiert, weil Behinderte gar nicht wahrgenommen wurden, nicht mal als Objekte der Ablehnung.

    Insofern kommt die Incluencer-Kampagne der Aktion Mensch zur richtigen Zeit.

    De-Organisation der Behinderten

    Ein wichtiger Prozess ist die De-Organisation: Viele Probleme wurden früher und werden nach wie vor durch Organisationen durch Aushandlungsprozesse befriedet. Allerdings stagnieren die Mitgliederzahlen oder sind sogar rückläufig. Das gilt etwa für Gewerkschaften, Kirchen, Parteien und so weiter.
    Wie stark das für Behinderten-Verbände gilt, weiß ich nicht. Mein Eindruck ist allerdings, dass vor allem junge Behinderte kaum noch Mitglied in einem Verband sind. Dazu trägt auch die Inklusion bei, junge Blinde sehen sich in erster Linie als jung und nicht als blind. Sie kommen weniger in Kontakt mit der Blindenszene und sehen vielleicht nicht die Notwendigkeit, in den Verband einzutreten.
    Das heißt aber auch, dass sie die Möglichkeiten des Verbandes nicht kennen, Einfluß zu nehmen. Sie sind häufig eher bereit, den persönlichen Kontakt zu suchen und zu eskalieren, wenn sie unzufrieden sind.
    Das ist unter anderem dank dem Internet und Social Media deutlich einfacher geworden. Und auch die lokale Presse lässt sich leicht für solche Konflikte gewinnen. Ob die Eskalation in jedem Fall sinnvoll ist, lasse ich mal dahin gestellt.
    ePetitionen und Shitstorms sind eine weitere Möglichkeit, Druck auszuüben. Mein Eindruck ist, dass Petitionen mehr als Instrument der Öffentlichkeitsarbeit eingesetzt werden, als für sich selbst wirksam zu sein. Change.org und ähnliche Plattformen haben keine rechtliche Wirkung, da sie nicht von öffentlichen Stellen betrieben werden. Ich bin ehrlich gesagt auch kein Freund von Shitstorms und beteilige mich an solchen Protesten nicht, aber das ist ein anderes Thema.
    Und natürlich gibt es die klassischen Protestformen wie Demos, Blockaden und so weiter. Sie werden zwar auch von den klassischen Verbänden, aber gerne auch an ihnen vorbei organisiert. Moderne Kommunikationskanäle machens möglich.
    Es hängt natürlich vom Verband ab, aber generell scheinen Einzelpersonen und unabhängige Personengruppen eher bereit, Konflikte mit der Öffentlichkeit einzugehen. Da viele Verbände mittlerweile bei Gesetzgebungs-Prozessen einbezogen sind, sitzen sie oft genug den Leuten gegenüber, gegen die sich der Protest der Nicht-Organisierten richtet.
    Und tatsächlich ist es so, dass die Verbände nicht unbedingt alle Themen auf dem Schirm haben, die für die jeweilige Person wichtig sind Oder dass sie schnell genug reagieren können. Last not least haben viele lokale Vereine gar nicht mehr die Personalstärke, um mehr als das unbedingt Notwendige zu machen und manchmal wird nicht einmal das gemacht. Vielleicht wächst eine neue Generation von behinderten Menschen heran, die mehr auf Ad-Hoc-Aktionen setzt und so schnelle Ergebnisse erreicht.

    Es gibt Konflikte und Konflikte

    Konflikte an sich sind weder gut noch schlecht. Ihre Austragung kann allerdings so oder so erfolgen. Für meinen Geschmack sind viele Aktivisten aus der Behinderten-Szene zu aggressiv und zu persönlich. Sie nehmen es dann mit den Fakten auch nicht so genau. Viele Konflikte werden zu schnell eskaliert.Oft genug ist das persönliche Gespräch, das am Anfang stehen sollte gar nicht gesucht worden. Ich habe häufig den Eindruck, dass da eher persönliche Fehden ausgetragen und Ressentiments gegen „die da oben“ verstärkt werden.
    Auch das finden wir in allen Minderheiten-Gruppen, ich habe mich aus der Migrations-Szene weitgehend verabschiedet, weil mir die ton-angebenden Personen zu undifferenziert sind.
    Man sollte nichts von den Anderen einfordern, zu dem man selbst nicht bereit ist: Kritik-Fähigkeit, die Bereitschaft, Fehler zuzugeben, eine Position angreifen, nicht aber die Person, ein höflicher und zwischenmenschich respektvoller Umgang, jedem die Möglichkeit lassen, das Gesicht zu bewahren. Ich sage immer, wer nicht im gleichen Maße einstecken kann, sollte gar nicht erst austeilen.

    Fazit

    Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ein Konflikt ist nicht für sich genommen gut. Wir alle würden uns gerne für positive Dinge engagieren anstatt gegen schwachsinnige Gesetze wie RISG oder andere Formen der Ausgrenzung zu demonstrieren. Konflikte sind kein Wert an sich.
    Allerdings müssen wir uns von der Idee verabschieden, dass die Inklusion konfliktfrei umgesetzt werden wird. Im Gegenteil: Je mehr Inklusion, desto mehr Konflikte werden sich ergeben.

    Die neue Normalität – Blinde und der Corona-Virus Teil II

    Darstellung des Corona-VirusVor ziemlich genau einem Monat schrieb ich den ersten Beitrag zum Corona-Virus und wie er sich auf Blinde auswirkt. Inzwischen ist klar, dass der Virus uns wahrscheinlich ein Jahr, vielleicht noch länger beschäftigen wird. Und damit auch die damit verbundenen Einschränkungen.

    Physische Distanz – Fragen ohne Antworten

    Die Normalität, wie wir sie kannten wird erst einmal nicht zurückkehren. Wir haben uns an Abstände in den Supermärkten, in den Öffis und auf der Straße mehr oder weniger gewöhnt, an Wachleute vor Supermärkten, an Schlangen vor Banken, an Menschen mit Gesichtsschutz. Doch solange die Kontaktsperre aufrecht erhalten blieb, waren die Erschwernisse nicht so schwerwiegend. Was aber passiert, wenn wir zur neuen Normalität kommen?
    Wenn wir zum Beispiel mit dem Zug oder mit dem Flugzeug (wenn das mal erlaubt sein wird) fliegen wollen, benötigen wir Assistenz. Wir brauchen Menschen, die uns zum Gate, ins Flugzeug, an den richtigen Platz bringen, uns durch Bahnhöfe begleiten und so weiter. Wie das mit physischer Distanz funktionieren soll, kann ich mir nicht vorstellen.
    Wie viele Passanten werden wohl stehen bleiben, wenn wir sie jetzt nach dem Weg fragen? Wie sollen wir uns Hilfe etwa an Hotel-Buffets holen? Wer wird uns vor Hindernissen warnen, wenn jeder nur noch darauf achtet, möglichst viel Abstand zu haben?
    Abstand halten ist in einer fast leeren Bahn kein Problem. Zur Not setzt man sich als Blinder auf den erst besten freien Platz und verscheucht damit den Sitznachbarn, der bessere Chancen hat, die Distanz zu halten. Aber wie das in den so oder so überfüllten Bahnen und Bussen funktionieren soll, wenn die Mehrheit wieder ins Büro oder in die Schule geht, das ist vollkommen unklar.

    Das Ende der Hilfsbereitschaft?

    In der Umstellungszeit und zu Ostern haben sich viele lokale Hilfsgruppen gebildet, die ältere und behinderte Menschen unterstützt haben. Ich will das nicht kleinreden, aber es war noch relativ einfach, als man sowieso nicht ins Büro konnte. Was aber passiert, wenn die Mehrheit wieder ins Büro muss oder aus dem Home Office arbeitet? So oder so ist diese eher informell organisierte Hilfe von einem stetigen Zustrom Freiwilliger abhängig, der wahrscheinlich irgendwann abreißen wird.
    Aber die Beschränkungen bleiben gerade für gefährdete Personen bestehen. Sie sind sogar noch stärker gezwungen, sich zu schützen. Wenn nämlich die Kontaktsperren verringert oder aufgehoben werden, die Kinder wieder in Kita und Schule und die Erwachsenen ins Büro und auf Partys gehen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass diese sich mit Corona anstecken und diejenigen anstecken, denen sie helfen wollen. Je mehr die Zeit voran schreitet, desto weniger werden sich die nicht unmittelbar Betroffenen an die Kontaktsperren halten – es sei denn, die Strafen dafür werden drastisch erhöht. Ich bin zwar mit viel Fantasie gesegnet, aber eine 1,5-m-Distanz-Party mit Desinfektionsspendern kann ich mir nicht vorstellen.

    Viele Fragen, keine Antworten

    Wie oben angedeutet, habe ich auf diese Fragen keine Antworten. Ich musste sie einmal aufschreiben, da sie mir im Kopf herumgeschwirrt ist.
    Vermutlich werden viele Einschränkungen bis nach den Sommerferien aufrecht erhalten. Im September könnte die neue Normalität mit voller Wucht einsetzen.
    Ich hoffe, dass wir bis dahin ein paar Antworten gefunden haben werden.

    Blinde und der Corona-Virus

    Darstellung des Corona-Virus Da ich in letzter Zeit öfter nach dem Einfluss des Corona-Virus auf Blinde gefragt wurde – und dank einem halben Dutzend abgesagter Workshops viel Zeit habe – möchte ich diese Frage gerne ausführlich beantworten. Informationen zum Corona-Virus, COVID19 und Barrierefreiheit.
    Ein kleines Update: Seitdem ich diesen Beitrag geschrieben habe, hat sich die Situation fast stündlich zugespitzt: Ich möchte euch bitten, wenn ihr die Möglichkeit habt und Blinde kennt, ihnen Hilfe anzubieten: Beim Einkaufen, bei Besorgungen oder auch im Haushalt. Niemand erwartet von euch, dass ihr eure Gesundheit riskiert, tut einfach das, was euch möglich ist.
    Unter den behinderten Menschen gehören Blinde nicht zu den besonders stark gefährdeten Gruppen. Besonders stark gefährdet sind Menschen mit Lungen-Erkrankungen, mit generell geschwächtem Immunsystem sowie Leute, die auf Assistenz angewiesen sind, die also soziale Kontakte nicht vermeiden können.
    Besonders stark gefährdet sind außerdem Gehörlose und Menschen, die auf Leichte Sprache angewiesen sind. Hier gibt es ein Informations-Defizit, so dass diese Personengruppen bislang schlecht mit Informationen versorgt wurden.
    Für Blinde gibt es hingegen kein Informationsdefizit. Wir haben Zugang zum Internet, zum Fernsehen, zum Radio und natürlich gibt es moderne Kommunikationskanäle wie WhatsApp und Co, wo wir uns austauschen können.

    Erhöhtes Infektionsrisiko

    Generell ist das Infektionsrisiko für Krankheiten bei Blinden erhöht, wenn diese Krankheiten durch Schmierinfektion übertragen werden. Allerdings spielt die Schmierinfektion beim Corona-Virus keine so große Rolle.
    In der Regel haben wir keinen PKW, sind also zu Fuß und per ÖPNV unterwegs und müssen Ampel-Knöpfe, Haltestangen und alles andere anfassen, was viele andere Menschen angefasst haben. So weit, so normal.
    Allerdings müssen wir deutlich mehr anfassen als Sehende: Dazu gehören die Sitze im ÖPNV, die Produkte im Supermarkt – anders als durch Betasten können wir sie nicht unterscheiden – und so weiter. Ich zum Beispiel fasse bei normalen Türen als zusätzliche Orientierung immer den Türrahmen an, um mir nicht noch mehr blaue Flecken an Armen und Schultern zu holen. Durch meine Augenerkrankung tränen meine Augen permanent, so dass ich mir natürlich ins Gesicht fassen muss.
    Wahrscheinlich gibt es noch unzählige andere Sachen, die wir anfasse, ohne es aktiv zu bemerken. Das heißt aber auch, dass wir nicht nur unser eigenes Infektionsrisiko erhöhen, sondern auch das Infektionsrisiko für Andere, wenn wir selber krank sind.

    Wie uns die Maßnahmen treffen

    Tatsächlich sind es einige Maßnahmen, die mit dem Corona-Virus eingeführt wurden, die uns treffen.
    Social Distanzing ist leicht gesagt, wenn man nicht auf verbale Kommunikation angewiesen ist. Wenn jemand mich aus zwei Metern Entfernung anspricht, bekomme ich das aufgrund meiner Höreinschränkung gar nicht mit. Manchmal fällt mir erst hinterher auf, dass ein Rufer mich gemeint haben könnte: Wenn man auf jeden Ruf reagieren würde, der in der Umgebung erfolgt, würde man nie irgendwo ankommen.
    Ich habe meine Draußen-Aktivitäten auf das Nötigste beschränkt. Vor dem Virus habe ich keine Angst. Allerdings ist es enorm schwierig, Distanz zu halten, wenn man nichts sieht. Für einen Blinden können alle Aktivitäten kompliziert sein, aber Fragebögen auszufüllen, sich die Hände zu desinizieren, Abstand zu anderen Leuten zu halten – das verlangt uns so viel ab, dass wir es lieber lassen.
    Eine weitere Herausforderung kommt hinzu: Mittlerweile gibt es Warteschlangen vor Apotheken und Supermärkten. Es sind physische Barrieren etwa aus Einkaufswagen aufgebaut worden, durch die man sich durchlavieren muss. Beides ist für Blinde eine zusätzliche Herausforderung.

    Warum Blinde nicht krank werden möchten

    Als blinde Person möchte man noch weniger gerne krank werden als Andere. Wenn man schon eine Behinderung hat, möchte man andere Komplikationen vermeiden. Dieses Jahr hat mich seit Jahren das erste Mal eine heftige Grippe erwischt, so dass ich tatsächlich freiwillig zuhause geblieben bin. Da ich viel zu Fuß gehe, war ich durch die Verschleimung der Lunge stark eingeschränkt und schon nach 15 Minuten total erschöpft, in gesunden Zeiten kann ich problemlos 2-3 Stunden am Stück gehen. Wenn die Nase eingeschränkt ist, funktioniert der Geruchsinn gar nicht mehr, wodurch eine sekundäre Orientierungshilfe verloren geht.
    Und natürlich besteht immer die Gefahr einer Mittelohr-Entzündung. Eine schwere Erkrankung erhöht immer die Gefahr von weiteren Infektionen, die dann schlimmer als die erste Krankheit ausfallen können. Ohne Gehör, das kann man uneingeschränkt sagen, sind selbst die Blinden mit Sehrest praktisch aufgeschmissen.
    Corona erschwert für uns auch die Kommunikation in Arztpraxen und Krankenhäusern. Wer keine Schutzkleidung trägt, kann sich zur Not noch ein wenig mit nonverbaler Kommunikation behelfen, bei Blinden funktionieren aber Gesten überhaupt nicht.
    Einige Blinde dürfte besonders treffen, dass die Lieferdienste für Lebensmittel mittlerweile eine lange Wartezeit haben. Bei einigen Rewes sollen es mittlerweile 14 Tage statt 2-3 Tage sein. Viele Blinde nutzen den Lieferservice, da das Einkaufen in Supermärkten für uns generell schwierig ist. Ich hoffe natürlich, dass die Betroffenen auf anderem Wege Hilfe gefunden haben.

    Soziale Isolation

    Viele – nicht alle – Blinden sind wie viele andere behinderte Menschen auch aufgrund ihrer persönlichen Situation, wegen mangelnder Unterstützung oder Barrierefreiheit sozial isoliert. Mit ein wenig Galgen-Humor könnte man sagen, sie müssten erst soziale Kontakte aufbauen, damit sie ihre sozialen Kontakte einschränken könnten.
    Das heißt aber auch, dass es an einem Netz von sozialen Unterstützungen fehlt. Eltern, Verwandte, Partner, Geschwister – sie alle können uns helfen, wenn wir in Quarantäne sind. Sie können für uns einkaufen, uns zum Arzt begleiten, uns Medikamente besorgen und so weiter. Wer das nicht hat, ist vollständig von staatlichen oder sozialen Hilfen etwa von den Wohlfahrtsverbänden abhängig. Auch für diese Menschen hoffe ich, dass sie die Hilfe bekommen, die sie brauchen. Über die psychischen Folgen einer sozialen Isolation brauchen wir denke ich nicht zu sprechen.

    Blinde und das Home Office

    Natürlich sind auch viele Blinde berufstätig. Als Internet-Redakteur könnte ich meine Arbeit auch auf einer einsamen Insel in der Karibik machen – wenn die Insel Internet hat.
    Andererseits rächt es sich heute einmal mehr, dass viele der virtuellen Konferenz-Lösungen pseudo-barrierefrei sind. Es ist leider der übliche Schwachsinn, irgendein Sehender hat irgendein gehyptes Testverfahren durchgeführt und hat gesagt, das Ergebnis sei barrierefrei. In der Praxis funktioniert es dann aber mäßig bis gar nicht.
    Manche Dinge sind aber generell schwierig: Es ist relativ schwierig, einer PowerPoint-Präsentation innerhalb so einer Lösung zu folgen. An anderer Stelle habe ich Tools zur barrierefreien Online-Kommunikation gesammelt.
    Generell bin ich ein Fan von Home Office: Weniger Gependel, was auch Blinden gut tut und der Umwelt hilft. Wenn das Klima sprechen könnte, würde es „Danke Corona“ sagen. Andererseits darf das nicht dazu führen, dass Blinde in ihrer Arbeitsfähigkeit eingeschränkt werden und das ist leider bei vielen Lösungen aktuell der Fall.

    Besonders gefährdete Blinde

    Generell ist man als Blinder von dem oben gesagten abgesehen keine besonders gefährdete Gruppe. Allerdings gehören viele Blinde dennoch zu den besonders gefährdeten Gruppen. Ein Teil der Erblindungen wurde durch Diabetes Typ II verursacht, Diabetiker – insbesondere insulin-pflichtige – werden generell zu den gefährdeten Gruppen gezählt.
    Außerdem kommt eine Blindheit selten alleine: Häufig liegen andere chronische Erkrankungen vor, die das Risiko erhöhen können. Last not least sind die meisten blinden Menschen Senioren, die ebenfalls zu den besonders gefährdeten Gruppen zählen.

    Was sollen wir tun

    Leider gibt es für uns keine besonderen und praktikablen Schutzmaßnahmen, wir müssen also das tun, was die Sehenden auch tun und insbesondere unnötige Kontakte und Außentätigkeiten vermeiden. Inzwischen hat der DBSV spezielle Tipps für Blinde zu Corona veröffentlicht.
    Vielleicht hat Corona zumindest eine positive Folge: Das wir in Zukunft stärker auf den Schutz vor Infektionskrankheiten achten. Die Grippe etwa wird uns so oder so erhalten bleiben und sie kostet jedes Jahr Tausenden das Leben. Bis heute habe ich nicht darüber nachgedacht, wie viele Menschen wir wohl unabsichtlich infiziert haben, wie viele von ihnen andere infiziert haben und wie viele Menschen wie dadurch indirekt auf dem Gewissen haben.
    Mir stellt sich die Frage, warum wir zumindest einen Teil der Schutzmaßnahmen, die heute überall zu finden sind nicht schon vor Jahren ergriffen haben: Das regelmäßige Desinfizieren von Türklinken, Knöpfen in den Bussen, Armaturen in öffentlichen Toiletten, das gründliche Händewaschen und so weiter. Wie es aktuell ist weiß ich nicht, aber bis vor einigen Jahren galten deutsche Kliniken als Schleudern für resistente Keime. Und wir sind unvorsichtig gewesen, was das präventive Impfen angeht. Wir haben das gelassen, weil wir selber kaum krank werden und haben dadurch andere gefährdet, die sich vielleicht nicht impfen dürfen. Vielleicht braucht die Menschheit diesen Arschtritt, den uns Corona verpasst.
    Mein Appell an uns alle: Wenn die harten Maßnahmen erst einmal vorbei sind, lasst euch impfen, wascht euch regelmäßig die Hände, bleibt zuhause, wenn ihr krank seid und helft Anderen, denen es nicht so gut geht wie euch.

    Am besten für lau – über die mangelnde Anerkennung behinderter Experten

    Stilisierte Figur neben einem HakenIch stelle immer wieder fest, dass man als Experte nicht wirklich anerkannt wird – was das Monetäre angeht – wenn man im sozialen Bereich arbeitet.
    Ich kann mir lebhaft vorstellen, dass einigen Leuten die Kinnlade runterklappt, wenn sie die Beträge lesen, die wir fordern. Gerade wenn man noch nie mit Freiberuflern zu tun hatte, scheint man ganz falsche Erwartungen zu haben.
    Aus den Antworten – oder häufiger Nicht-Antworten – kann man aber auch den Schluss ziehen, dass die Leute tatsächlich erwartet haben, dass wir unsere Arbeit für eine kleine Aufwandsentschädigung oder gar kostenlos erledigen. Die gleichen Leute haben aber kein Problem, vierstellige Tagessätze an Unternehmensberater zu zahlen.
    Der übliche Ablauf sieht so aus: Ich werde meistens per Mail angefragt. Fast immer muss man den Leuten aus der Nase ziehen, was sie tatsächlich wollen. Dann schickt man ein Angebot und hört meistens nie wieder was von denen. Meine persönlichen Lieblinge sind diejenigen, die einen eine halbe Stunde am Telefon eine Beratung abluchsen lassen und dann nie wieder von sich hören lassen.
    Ich lasse mich nicht dafür bezahlen, dass ich behindert bin, das ist keine besondere Leistung. Ich werde bezahlt für die Expertise, die ich mir im Laufe der Jahre angeeignet habe. Ich sehe mich weniger als Aktivisten, ohne diesen Begriff abwerten zu wollen und mehr als Experten.

    Die Kosten der Selbständigkeit

    Vielleicht mal als Einblick: Ein Freiberufler muss seine komplette Renten- und Krankenversicherung selbst zahlen. Ist man nicht in der Künstlersozialkasse, können das gerne mal 800 € und mehr pro Monat sein. Man möchte nicht ständig zuhause rumhängen, also soll es ein Büroplatz sein, roundabout 250 € Minimum im Co-Working, je nach Lage kann es aber auch deutlich mehr sein. Technisch muss man möglichst gut ausgestattet sein, ein gutes und vor allem reisefestes Notebook, ein ordentliches Smartphone, ein Tarif mit reichlich Volumen, diverse Adapter (ihr würdet nicht glauben, wie viele Einrichtungen noch Beamer mit VGA betreiben). Dazu kommen viele andere Dinge wie eine BahnCard, eine Website, Software-Lizenzen, diverse Versicherungen und vieles mehr.
    Und weiter gehts, natürlich ist es nett, wenn jemand die Reise- und Übernachtungskosten übernimmt. Allerdings kann ich in der Zeit, in der ich an Bahnhöfen oder in der Bahn stehe nichts anderes machen. Diese Zeit muss man also als Arbeitszeit mit kalkulieren.
    Natürlich kommen nach einigen Dutzend Schulungen und Vorträgen zahlreiche Materialien zusammen. Sie wurden in vielen Stunden Arbeit erstellt. Sie müssen stetig aktualisiert und natürlich für die jeweilige Zielgruppe optimiert werden. Ein halber Tages-Workshop kostet also ungefähr einen halben Tag Arbeit.
    In der Regel sind die Kosten und der Stress für einen behinderten Referenten auf Dienstreise höher. Oft finden die Veranstaltungen irgendwo in der Pampa statt. Unter Pampa fallen bei mir auch Bahnhöfe ohne Lautsprecherdurchsagen oder Taxistand. Ohne Assistenz würde ich solche Aufträge gar nicht annehmen.

    Nicht-barrierefreie Ausschreibungen

    Eine öffentliche Stelle ließ mir letztes Jahr eine Ausschreibung für einen 1-Tages-Workshop in Berlin zukommen. Es waren glaube ich rund ein Dutzend Dokumente, PDFs, Excel-Tabellen und weiterer Schmus, ich muss nicht erwähnen, dass nichts davon barrierefrei war. Eine Uni schickte mir eine Ausschreibung als PDF, die aus eingescannten Bildern bestand, für Blinde also unzugänglich. Ich habe sofort verstanden, warum sie Support für Barrierefreiheit brauchten.
    Ich schätze, dass ich mit Assistenz mindestens einen halben Tag allein für die Ausschreibung gebraucht hätte. Natürlich gibt es viele kompetente Leute in Berlin, so dass ich dankend abgesagt habe.

    Mangelnder Respekt

    Im Grunde ist es schon frech, die Auftraggeber erwarten schnelle Angebote und zuverlässige Erbringung. Aber von selbst mitzuteilen, dass man sich für einen anderen Anbieter entschieden hat, so viel Verbindlichkeit darf man von ihnen nicht erwarten. Man sollte dazu sagen, dass viele dieser Ausschreibungen schon einen halben Tag oder mehr erfordern, um sie auszufüllen. Sollte man dabei einen Fehler machen – das passiert schnell, wenn man blind ist – wird man ohne Weiteres nicht berücksichtigt. Das Wort „unverbindlich“ wird von den potentiellen Auftraggebern gerne großzügig ausgelegt.
    Vieles davon trifft natürlich auch auf die nicht-behinderten Freiberufler zu. Doch habe ich durchaus den Eindruck, dass im im sozialen Bereich der Respekt vor dem Experten noch geringer ist. Arbeitet man mit Menschen, wird selbstverständlich erwartet, dass man günstig oder umsonst arbeitet. Niemand würde aber erwarten, dass der Maler das Haus umsonst streicht oder der Programmierer die Datenbank für ein kaltes Buffet inklusive Getränke fertigstellt.

    Verdrängen Sprachausgaben und smarte Lautsprecher die Blindenschrift? – ein launiger Kommentar zum Braille-Tag 2020

    mein name in brailleEigentlich wollte ich dieses Jahr nichts mehr zum Braille-Tag schreiben – irgendwie ist alles gesagt, nur noch nicht von mir. Dann stieß ich auf diese etwas merkwürdigen Diskussionen auf Twitter. Demnach verdrängen smarte Lautsprecher und Sprachausgaben Braille. Ich bin noch nicht alt genug, vermute aber, dass diese Diskussionen schon seit den 80ern geführt werden. Also, seitdem die synthetischen Sprachausgaben aufkamen.
    Es erinnert mich ein wenig an die Sehenden-Diskussionen um den Verlust der Handschrift. Da werden esoterisch anmutende Thesen darüber angestellt, welche Verbindung zwischen der Bewegung der Hand beim Kritzeln und dem Denken bestehen. Wahrscheinlich denken die gleichen Leute auch, der amerikanische Geheimdienst könnte mit Mobilfunkwellen in ihren Kopf schauen.

    Mehr Braille als je zuvor

    Richtig ist, dass Braille heute präsenter ist als je zuvor: Schauen Sie in den Mediekamenten-Schrank, auf viele Broschüren oder Visitenkarten, Aufzüge, an die Sitze vieler Fernzüge und so weiter.
    Es stimmt, dass es in vielen Fällen zu wenig Literatur in Braille gibt. das liegt aber daran, dass die Nachfrage nach solcher Literatur generell rückläufig ist. Es macht keinen Sinn, dass die Braillebibliotheken große Mengen an Büchern vorhalten, die so gut wie gar nicht ausgeliehen werden. Hier macht eventuell ein Print-on-Demand-Service Sinn, also die Produktion eines Buches erst, wenn es nachgefragt wird.

    Die Sprachausgabe ist praktischer

    Richtig ist aber auch, dass die Sprachausgabe in zahlreichen Fällen praktischer ist. Wenn man nicht von Kindesbeinen an Braille liest, ist es sehr schwer, ein angenehmes Lesetempo zu erreichen. Ich würde grob geschätzt 6 mal so lange brauchen, um meine Arbeit zu erledigen, wenn ich nur mit Braille arbeiten würde. Ja, durch die Übung würde ich irgendwann schneller werden, aber das Tempo der Sprachausgabe würde ich nie erreichen. Und hätte so keine Chance, effizient und konkurrenzfähig zu einem Sehenden zu arbeiten.
    Die meisten Personen erblinden heute im Erwachsenen-Alter. Sie lernen wenn überhaupt erst spät Braille. Für sie sind Smartphones und die Lautsprecher nicht der beste, sondern oft der einzige Zugang zu Internet und Technologien.

    Kein Verdrängen, sondern ein Nebeneinander

    Die Schrift verdrängte das Gedächtnis, das Radio das Schreiben, das Fernsehen das Denken und dank dem Internet gibts kein Fernsehen mehr. Sie haben sich also nur eingebildet, gestern das Dschungel-Camp gesehen zu haben,
    Insgesamt hat Braille weder an Bedeutung gewonnen noch verloren. Wie schon häufiger dargestellt geht es eher darum, dass die Gesamt-Zahl blind geborener Kinder und damit der nativen Braille-Leser zurückgeht. Wenn man von den blinden Viel-Lesern, den blinden Akademikern und ein paar anderen Hoch-Qualifizierten absieht, kommen die meisten Blinden tatsächlich ohne Braille oder mit sehr rudimentären Kenntnissen aus. Es sind vor allem die Berufstätigen, die es können sollten.
    Richtig ist aber auch, dass das aktive Lesen von Braille im Berufs-Alltag wichtiger wird. Ich glaube, dass korrekte Orthografie und Braille-Lektüre stark miteinander zusammenhängen. Wenn man sich den Unsinn ansieht, den manche Blinde unkorrigiert mit der Spracherkennung eindiktieren zweifelt man daran, dass diese Personen eine Job-Perspektive haben werden.
    Ansonsten ist aber klar, dass wir einen Mix unterschiedlicher Zugänge und Technologien brauchen. Für meinen Geschmack sind die smarten Lautsprecher immer noch zu dummm, sie können nach wie vor keine beliebigen Webseiten oder Bücher vorlesen. Wenn man in seinem Alltag Wege gefunden hat, ohne Braille auszukommen, freut mich das für diese Personen.

    Die ungelösten Probleme von Braille

    Ich bin weit davon weg, ein Experte für Braille zu sein. Mir scheint aber, dass wir die Probleme von Braille nach wie vor ungelöst vor uns herschieben. Der Katzenjammer bringt allerdings relativ wenig, ansonsten würden wir uns bemühen, sie zu lösen. Ich wiederhole sie noch mal, falls Sie einschlafen sollten, holen Sie sich doch eine Koffein-Tablette aus dem Medikamentenschrank, dann können Sie schon mal Braille-Lesen üben. Falls kein Braille auf der Medikamenten-Schachtel drauf steht, schreiben Sie eine böse Mail an den Hersteller.
    1. Braille-Druck ist in der gesamten Produktions-Kette zu teuer, sowohl als natives Braille-Buch als auch bei Hybriden aus Braille- und Schwarz-Schrift.
    2. Digitale Braillezeilen sind nach wie vor zu teuer. Braille-Schreibmaschinen sind nicht nur teuer, sondern schwer.
    3. Braille ist vor allem für ältere Menschen schwer zu erlernen. Das hat natürlich was mit den Problemen des Lernens im Alter zu tun, aber auch mit der hohen Sensibilität, die zum Unterscheiden und Erfassen der Punkte notwendig ist.
    Last not least gibt es schlicht zu wenige wohnort-nahe und finanzierbare Angebote für Spät-Lerner. Fast alles findet im Rahmen von Schulen, anderen Blinden-Einrichtungen und dann fast nur als Teil einer blindentechnischen Grundausbildung statt. Für Menschen, die nicht zur Schule gehen oder keine berufliche Reha erhalten ist es kaum möglich, Braille zu lernen. Zumindest in diesem Bereich könnten die Blindenverbände meines Erachtens mehr machen.

    Wie der Föderalismus Behinderte behindert

    Der deutsche Föderalismus ist historisch gewachsen und mag in vielen Fällen sogar seine Berechtigung haben. Doch gerade für behinderte Menschen erweist er sich häufig genug als Ärgernis.

    Irgendwie schwerbehindert

    Die Regeln, nach denen man schwerbehindert ist sind bundesweit gleich. Sie sind in der Versorgungs-Medizin-Verordnung, von Pastorentöchtern liebevoll VersMedV abgekürzt festgelegt. Soweit so schön. Sie beantragen also im Land NRW Ihren Schwerbehindertenausweis, können von Münster nach Köln oder umgekehrt umziehen und den Ausweis behalten. Aber ziehen Sie ein paar Kilometer weiter, sagen wir nach Osnabrück oder Koblenz, müssen Sie den Ausweis neu beantragen. Das klingt läppisch, in Wirklichkeit ist es aber so, als ob Sie den Ausweis vollständig neu beantragen würden. Ich fasse das mal zusammen: Land A erkennt Sie als schwerbehindert an, Land B muss Sie noch mal als schwerbehindert anerkennen, obwohl bundesweit die gleichen Regeln gelten. Bei gesetzlich Blinden ist das Ganze sogar noch relativ einfach, wobei es dennoch Monate dauern kann. Zum Beispiel für Menschen, die nach Berlin ziehen, wie ich mir habe sagen lassen. Bei nicht eindeutigen Fällen, also wenn der Schweregrad der Behinderung nicht ohne Weiteres festgelegt wird, kann sich das Verfahren Jahre hinziehen, wobei man in vielen Fällen Widerspruch einlegen muss, was den Prozess um Monate und manchmal Jahre verlängern kann.
    Das Ganze ist ein überflüssiger bürokratischer Akt, der nebenbei gesagt nicht nur auf Seiten der behinderten Menschen, sondern auch bei den Behörden viele Ressourcen bindet, die sinnvoller investiert werden könnten.
    Nicht eindeutig sind die Regeln, was die Gültigkeit des Behindertenausweises angeht. Als ich in den Nuller Jahren nach Hessen zog, war mein NRW-Ausweis unbefristet. Falls der Messias nicht zurückkehrt, ist bei meiner Behinderung absehbar keine Besserung zu erwarten. Im Land Hessen glaubt man jedoch anscheined an dessen baldige Rückkehr, weshalb der Ausweis auf fünf Jahre befristet wird. Aber natürlich erst, nach dem ich einen deutschen Paß hatte, vorher wurde er auf ein Jahr befristet, weil meine Aufenthaltserlaubnis keine fünf Jahre gültig war, nebenbei bemerkt war ich damals portugiesischer Staatsbürger, also Bürger der Europäischen Gemeinschaft, wie sie damals noch hieß und hatte 20 Jahre in Deutschland gelebt.
    Der Wahnsinn ist damit aber noch lange nicht beendet. Wenn Sie nämlich Integrationshilfen wie Arbeitsassistenz, persönliche Assistenz oder Ähnliches vom Land erhalten, dürfen Sie das am neuen Wohnort auch neu beantragen. Muss ich dazu sagen, dass auch diese Anträge Monate oder Jahre dauern können und das kaum ein Arbeitgeber bereit ist, das mitzumachen? Das Prozedere bei der persönlichen Assistenz ist langwierig, selten bekommt man im ersten Anlauf die Stunden bewilligt, die man tatsächlich benötigt. Hoffen wir einmal, dass es mit dem Bundesteilhabegesetz einfacher wird.

    Die sozialen Unterschiede

    Und die Geschichte ist leider noch immer nicht zu Ende: Denn die Hilfen in den Bundesländern sind sehr unterschiedlich. Meines Wissens ist die Blindenhilfe die einzige finanzielle Hilfe, die bundesweit gewährt wird. Die Blindenhilfe ist einkommensabhängig: Nur wer Sozialhilfe, ALG II oder gar nichts erhält hat Anspruch auf die Blindenhilfe in voller Höhe. In Nordrhein-Westfalen wird die Blindenhilfe in voller Höhe als einkommens-unabhängiges Blindengeld ausgezahlt. Manche Länder zahlen die Hälfte als einkommens-unabhängiges Blindengeld, wer Einkommen hat, muss sich also mit der Hälfte dessen begnügen, was er in NRW erhalten würde.
    Schlimmer sieht es jedoch bei anderen Hilfen aus: Das ohnehin nicht besonders üppige Sehbehindertengeld wird nur in wenigen Ländern gezahlt.
    Gleiches gilt für das Taubblindengeld. Eigentlich hätten die Hilfen für Taubblinde mit der Einführung des Merkzeichens TBl verbessert werden müssen. Finanzielle Hilfen gibt es jedoch nur in wenigen Bundesländern.
    Auch das – nebenbei lächerlich geringe – Gehörlosengeld gibt es nur in einigen Bundesländern. Eventuell kann man dort Sachleistungen beantragen, die aber natürlich immer zweckgebunden und bürokratisch aufwendig zu beantragen sind.

    Der Föderalismus schränkt unsere Rechte ein

    Nebenbei gesagt sind die zuständigen Stellen auch sehr unterschiedlich. Ich habe mit dem Landschaftsverband Rheinland und dem Landeswohlfahrtsverband Hessen relativ gute Erfahrungen gemacht, was aber nicht unbedingt repräsentativ ist. Dem Vernehmen nach scheinen andere Verwaltungen wie das LAGESO in Berlin deutlich schwieriger zu sein. Man muss sich also noch mit unterschiedlichen bürokratischen Kulturen herumschlagen.
    Das Ärgerlichste ist, dass das alles eigentlich nicht sein muss. Wie oben erwähnt gilt die VersMedV bundesweit. Die Kosten für behinderte Menschen hängen eher von der persönlichen Situation als vom Wohnort ab.
    Ich bin kein Jurist, aber meines Erachtens verstößt die aktuelle Situation gleich gegen mehrere Prinzipien des Grundgesetzes. Zum Einen ist die Regierung verpflichtet, gleichwertige Lebensverhältnisse sicherzustellen. Das ist nicht gegeben, weil das ohnehin geringe Sehbehinderten- und Gehörlosengeld oft gar nicht gezahlt wird, ebenso wie das Taubblindengeld. Weiterhin dürfen wir uns zwar niederlassen, wo wir wollen – sofern wir eine bezahlbare barrierefreie Wohnung finden – doch ist diese Möglichkeit durch den bürokratischen Aufwand wie oben geschildert eingeschränkt und kann finanziell nachteilig sein. Würde ich fünf Kilometer weiter südlich ziehen,müsste ich meinen Schwerbehindertenausweis beim Land Rheinland-Pfalz neu beantragen, würde weniger Blindengeld bekommen und natürlich kann es immer sein, dass das Land bestimmte Behinderungen gar nicht anerkennt, wodurch ich Nachteilsausgleiche verlieren würde.
    Ein Umzug ist selten anstrengungsfrei, doch wird er durch die Bürokratie unnötig schwer gemacht.

    Verkehrswende barrierefrei – was Behinderung und Klimaschutz gemeinsam haben

    Der Klimaschutz wird zurecht in vielen Medien diskutiert. Eines der wichtigsten Anliegen dabei ist eine Verkehrswende. Seltsamerweise höre ich da kaum Stimmen von behinderten Menschen oder ihren Verbänden, Auf den Veranstaltungen zu diesem Thema kommen die Anliegen behinderter und älterer Menschen im Grunde nicht vor. es ist Zeit, das zu ändern.
    Kleines Update: Ich wurde gefragt, ob dieser Beitrag etwas mit dem Verkehrsunfall in Berlin zu tun hat, an dem ein SUV beteiligt war. Dem ist nicht so, ich hatte den Beitrag in der Schublade und ihn zufällig an diesem Wochenende fertig geschrieben. Von dem Unfall habe ich nur am Rande gehört. Leider ist es so, dass viele moderne Autos eher sportlich gestaltet sind, das scheint ein Synonym für unbequem zu sein. Für viele ältere Leute ist es schwierig, in konventionelle Autos einzusteigen, übrigens auch in die nicht bordstein-gleichen Busse. Wie ich an anderer Stelle schrieb hat die Regierung nicht nur den Klimawandel, sondern auch den demografischen Wandel verschlafen. Vielmehr scheint sie paralysiert zu sein und nicht in der Lage, auf die Probleme unserer Zeit adequate Antworten zu finden. Mein Beitrag richtet sich nicht gegen SUVs oder bestimmte Autos, sondern gegen den motorisierten Individualverkehr als solchen.

    Der tägliche Verkehrsinfarkt

    Niemand ist mit der heutigen Verkehrssituation in der Großstadt zufrieden: Pendler stehen im Stau, die Öffis sind die meiste Zeit überfüllt, verspätet und unzuverlässig, Fahrradfahrer leben gefährlich und die Fußgänger werden so behandelt, als ob sie nicht existieren.
    Auf dem Land finden wir das Gegenteil: Es gibt teilweise keine Verkehrsversorgung, so dass die Menschen von der Großstadt ohne eigenen fahrbaren Untersatz praktisch ausgeschlossen sind. Das gilt natürlich auch für Behinderte, die nicht in der Stadt leben wollen oder können. Motorisch Behinderte sind viel stärker von der Wohnungsknappheit betroffen, weil sie barrierefreie Wohnungen und Zugänge brauchen. Diese Wohnungen sind vor allem in den Ballungszentren praktisch nicht mehr zu bekommen. Behinderte sind deshalb oft gezwungen, in die Peripherie der Städte oder aufs Land mit der schlechten Infrastruktur zu ziehen.

    Keine Verkehrswende ohne uns

    Das Problem der Verkehrswende lässt sich klar in einem Satz zusammenfassen: Die Politik traut sich nicht an einen großen Wurf heran, der aber notwendig wäre. Stattdessen doktert sie an einzelnen Symptomen herum, die das Problem aber eher verschärfen. Jüngstes Beispiel dafür sind die Elektro-Scooter. Ein paar Radwege, Elektro-Ladestationen und Elektro-Autos lösen aber exakt kein einziges Problem, sie werden selber zu einem Problem. Als Super-Lösung erscheint das Fahrrad.
    Nun bin ich durchaus ein Freund der Fahrradisierung der Innenstadt. Aber nicht unter heutigen Bedingungen. In Bonn gibt es jetzt schon viele Bürgersteige, die wegen abgestellter Fahrräder, anderer Fahrzeuge und dem ganzen anderen Zeug für Behinderte unbenutzbar sind. Das gilt für Blinde mit ihrem Blindenstock, für Rollstuhlfahrer, für Rollator-Nutzer, für Personen mit Kinderwagen und so weiter. Auf die Straße auszuweichen ist teils nicht machbar und teils gefährlich. Wir können uns lebhaft vorstellen, was passiert, wenn auf den Bürgersteigen noch mehr Fahrzeuge, Ladestationen und so weiter dazu kommen.
    Hinzu kommt, dass auch die Fahrradfahrer selbst eine Bedrohung sind. Ich stelle jeden Tag fest, dass auf Personen mit einem Blindenstock gar keine Rücksicht genommen wird. Warum muss man trotz ausreichend breiter Wege 10 Zentimeter an mir vorbei rasen, obwohl man den Stock genau gesehen hat? Ich kann nicht anders als das als asoziales Verhalten zu bewerten.
    Die Fahrradfahrer fordern mehr Rücksichtnahme von Autofahrern. Gegenüber Fußgängern verhalten sie sich aber wie Rambos auf zwei Rädern. Ich habe tatsächlich nichts dagegen, wenn sie auf den Bürgersteigen unterwegs sind, aber mir leuchtet nicht ein, warum sie das nicht in einem vernünftigen Tempo tun. Wenn alle künftigen Radfahrer sich so verhalten, dann verzichte ich lieber auf die Verkehrswende. Nicht die Fahrradfahrer, sondern die Fußgänger und andere Nutzer des Bürgersteigs sind die am meisten gefährdete und behinderte Gruppe im Straßenverkehr.

    Was zu tun ist

    Man muss kein Verkehrs-Experte sein, um das Notwendige auszusprechen. Offenbar fällt es aber doch dem Laien, also mir, zu. Das Problem ist, dass wir den großen Wurf brauchen, denn das Rumgefrickel der letzten 40 Jahre hat die Probleme nur verschärft. Es müssen mehrere Maßnahmen parallel durchgeführt werden:

    • Der private Autoverkehr muss weitgehend aus der Innenstadt verschwinden. Das Car-Sharing muss konsequent gefördert werden, denn die meisten privaten autos stehen die meiste Zeit ihrer Existenz ungenutzt herum und tun nichts, als Platz weg zu nehmen.
    • Die Auto-Parkplätze insbesondere in den Innenstädten müssen reduziert und zu Abstellplätzen für Fahrräder und andere Kleinfahrzeuge umgestaltet werden. Am besten überdacht und mit einem passablen Diebstahlschutz.
    • Der ÖPNV muss massiv ausgebaut, billiger, zuverlässig und barrierefrei werden.
    • Das Tempo in der Innenstadt muss heruntergefahren werden: Tempo 30 ist vollkommen ausreichend. Parallel sollen Fahrräder und andere Klein-Fahrzeuge dazu berechtigt sein, die Straßen zu nutzen und zwar gleichberechtigt mit den verbleibenden Groß-Fahrzeugen. Den Groß-Fahrzeugen müssen sämtliche Vorrechte entzogen werden, die sie aktuell auf der Straße genießen. Es müssen keine neuen Radwege gebaut werden, für die in der Innenstadt ohnehin kein Platz wäre.
    • Die Bürgersteige sollen den Fußgängern, Rollstuhlfahrern, Rollator-Nutzern und anderen langsamen Personen vorbehalten bleiben, Maximal-Tempo 6 km/h. So können auch ältere Menschen, die elektro-Kleinfahrzeuge verwenden wollen, sich aber nicht auf die Straße trauen mobil bleiben. Die Kommunen müssen dafür sorgen, dass ausreichend komfortabel nutzbare Flächen freibleiben. Slalom-Laufen ist keine Lösung. In jedem Fall muss so viel Platz sein, dass zwei Personen aneinander vorbeigehen können, ohne dem Anderen auf die Pelle zu rücken.
    • Es braucht flexible und günstige Lösungen, auch für Behinderte, um Zentrum und Peripherie besser miteinander zu verknüpfen. Eine Möglichkeit sind barrierefreie Anruf-Sammeltaxis oder barrierefreies Car-Sharing.
    • Die Fußgänger und andere langsame Nutzer des Bürgersteiges sollen als gleichberechtigte Partei neben Klein- und Großfahrzeugen wahrgenommen und behandelt werden.

    Es versteht sich von selbst, dass man für besonders herausgeforderte Personen wie Familien mit kleinen Kindern, Gehbehinderte, chronisch Kranke und so weiter besondere Lösungen braucht. Für den gesunden Durchschnitts-Bürger hingegen muss das Privat-Auto möglichst unattraktiv und der ÖPNV im gleichen Zuge möglichst attraktiv werden.
    Heute ist genau das Gegenteil der Fall: Wer nicht muss, nutzt den ÖPNV nicht. Die Deutsche Bahn hat ihre Zuverlässigkeit in den letzten Jahren offenbar systematisch verschlechtert. Wir haben wie in vielen Bereichen seit Jahrzehnten Stillstand.
    Weiterhin wird bei der Verkehrswende der zweite Schritt vor dem ersten gemacht: Der erste Schritt wäre, die Mobilitätsanlässe drastisch zu reduzieren. Zu den möglichen Maßnahmen gehören der Ausbau des Internet-Zugangs auch in der Peripherie, ein funktionierendes eGovernment, eine großzügige Home-Office-Regelung und der konsequente Einsatz von Fern-Kommunikation, um unnötige Dienstreisen zu verringern. Auch das sind Maßnahmen, von den viele behinderte Menschen profitieren könnten.

    Fazit

    Die Verkehrswende ist nur ein Aspekt, der uns beim Klimawandel betrifft. Vieles spricht dafür, dass uns Behinderte der Klimawandel besonders treffen wird. Fast alle Behinderten leben in Entwicklungsländern. Sie sind nicht mobil und den Folgen von Dürre und Überschwemmungen praktisch schutzlos ausgeliefert. Doch auch hierzulande sind viele Betroffen. Das Thema Strohhalme mag uns banal erscheinen, für die Betroffenen ist es durchaus relevant.
    Umso wichtiger ist es, dass sich mehr Behinderte bei den Diskussionen um den notwendigen Wandel einbringen.
    Ich finde es bedauerlich, dass einige Beteiligte versuchen, einen Generationen-Konflikt aufzumachen. Wenn eine Verkehrswende vernünftig gestaltet wird, können alle profitieren: Die Kinder und die Jugend, die Mittel-Alten und die Senioren. Denn im Grunde, das schrieb ich oben, ist niemand mit der heutigen Situation in den Städten zufrieden, selbst die Autofahrer wünschen sich heimlich, dass es weniger Autoverkehr und weniger aggressives Verhalten auf den Straßen gäbe.

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