Manchmal glaube ich, dass ich im falschen Jahrhundert gelandet bin. Es kann doch im Jahr 2021 nicht möglich sein, dass es für Blinde kaum eine Chance auf die Behandlung in einer psychosomatischen Klinik gibt. Und doch scheint das bittere Realität zu sein.
Da ich selber bisher nicht betroffen bin, kann ich nur indirekt berichten. In der Rückschau fällt mir aber auf, dass ich solche glaubhaften Berichte schon häufiger von verschiedenen Personen gelesen habe.
Es geht darum, dass psychosomatische Kliniken aus Prinzip blinde Patient:Innen ablehnen. Dabei werden alle möglichen Gründe vorgebracht. Im Endeffekt geht es aber darum, dass das Klinikpersonal den blinden Patient:Innen nicht helfen kann oder will. Sind Blinde alleine in der Klinik, das dürfte bei Erwachsenen die Regel sein, brauchen sie sehr wahrscheinlich Hilfe bei der Orientierung auf dem Gelände und im Speisesall. Wahrscheinlich brauchen sie auch Hilfe oder spezielle Methoden bei der Therapie, mangels genauer Kenntnis der Therapie-Methoden kann ich das allerdings nicht beurteilen.
Anlass für diesen Beitrag ist ein Bericht in einer Facebook-Gruppe für Blinde und Sehbehinderte. Dort berichtete eine Teilnehmerin, dass sie wegen ihres Blindenhundes Probleme habe, einen Therapieplatz zu finden. Sie werde wegen ihres Blindenhundes abgelehnt, obwohl das Mitbringen normaler Patienten-Hunde generell erlaubt sei. Schnell meldeten sich andere Blinde zu Wort, dass wohl nicht der Hund, sondern die Blindheit der Grund für die Ablehnung sei. Nebenbei sei erwähnt, dass seit der Aktualisierung des Bundes-Teilhabegesetzes seit dem 1.7.2021 die Regeln zum Mitbringen von Assistenzhunden verbessert wurden.
Leider kann ich nicht auf die Gruppe verlinken bzw. daraus zitieren, da es sich um eine geschlossene Facebook-Gruppe handelt und ich nicht weiß, ob die Personen öffentlich genannt werden wollen.
Wenn das aber so stimmt und ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln, dann ist das Verhalten dieser Kliniken unentschuldbar. Diese Kliniken sollen Menschen mit psychischen Erkrankungen unterstützen, aber sie lehnen hilfsbedürftige Personen ab aus keinem anderen Grund als dass sie ihnen zu viel Arbeit machen. Es sind auch noch Personen von Ablehnung betroffen, die psychische Probleme haben und deshalb wahrscheinlich auch nicht die Kraft haben, sich rechtlich zur Wehr zu setzen und denen eine Odyssee auf der Suche nach einer Klinik zugemutet wird, die sie aufnehmen möchte.
Dass sich einzelne Kliniken so verhalten, hat mich weniger überrascht. Ablehnung gehört für Blinde leider zum traurigen Alltag. Doch dass diese Ablehnung offenbar System hat, war mir neu. Das ist umso bitterer, weil es sich hier um helfende und heilende Berufsgruppen handelt, von denen man so ein Verhalten am wenigsten erwarten würde.
Leider kann ich die rechtliche Situation schwer einschätzen. Es dürfte schwierig sein, einer Klinik Diskriminierung nachzuweisen. Sie werden sich schriftlich und damit nachweisbar selten so äußern, dass ihnen eine Diskriminierung nachgewiesen werden kann. Ärzt:Innen und Kliniken dürfen sich ihre Patienten – soweit mir bekannt grundsätzlich selbst aussuchen bzw. sie ablehnen, wenn es nicht gerade um akute Notfälle geht. Wenn nicht gerade irgendwo schriftlich niedergelegt ist, dass Blinde grundsätzlich nicht aufgenommen werden, dürften Diskriminierungsklagen schwierig sein.
Psychische Belastung bei Blinden
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Warum Sie nicht bei Haema Blut spenden sollten – Diskriminierung von Blinden und Sehbehinderten
Unser Fazit vorneweg: Wenn Sie etwas gegen Diskriminierung Behinderter haben, sollten Sie nicht bei Haema Blut spenden oder Plasma abgeben. Das Unternehmen diskriminiert offen Behinderte bei der Blutspende.
Haema ist ein privates Unternehmen, welches an mehreren Standorten Zentren zur Blutspende unterhält. Neulich habe ich von einer blinden Freundin aus Bonn erfahren, dass sie bei der Blutspende aufgrund ihrer Blindheit abgelehnt wurde. Da wollte ich einmal nachfragen.
Also einmal in der Bonner Niederlassung angerufen und es mir bestätigen lassen. Blinde, besser gesagt Personen, welche den Eingangs-Fragebogen nicht selbst ausfüllen können werden generell abgewiesen. Das heißt, wenn ich das richtig sehe, dass auch Personen mit geringen Lese-Fähigkeiten, Deutsch-Kenntnissen oder einem zu geringen Sehvermögen abgelehnt werden. Sie alle können den Fragebogen nicht selbständig bearbeiten.
Die Unterstützung durch eine dritte Person ist nicht gestattet, da es sich teils um intime Fragen handle. Die Mitarbeitenden von Haema können ebenfalls nicht helfen, weil ihnen das zu viel Aufwand ist, so die sinngemäße Aussage des Mitarbeiters, mit dem ich gesprochen habe.
Haema schreibt dazu auf ihrer Seite:
Menschen mit einer starken Sehbeeinträchtigung dürfen zumeist kein Blut spenden. Es geht hierbei keinesfalls darum, auszuschließen oder zu diskriminieren… Im Vorfeld einer jeden Blutspende gibt es Fragebögen und viel Administratives auszufüllen. Da wir diese Unterlagen nicht in Blindenschrift vorliegen haben, gäbe es keine Möglichkeit für die betreffende Person, alles korrekt lesen und ankreuzen zu können. Quelle
Ach so, sie wollen gar nicht diskriminieren, dann ist ja alles gut. Die Anmerkungen zur Blindenschrift zeigen, dass man sich mit dem Thema Blindheit nicht beschäftigt hat oder beschäftigen möchte. Ein kleiner Ausflug ins 21. Jahrhundert würde der Einrichtung nicht schaden.
Mit den Diskriminierungen ist das so eine Sache. Es gibt erlaubte und nicht-erlaubte Diskriminierungen. An dieser Stelle der Hinweis, dass ich mich nur oberflächlich mit dem Thema auskenne und die Infos auf meinem Laien-Wissen zum Allgemeinen Gleichbehandlungs-Gesetz basieren.
Generell gibt es immer die Möglichkeit, einzelne Personen abzuweisen. Wenn eine blinde Person sich zum Beispiel daneben benommen oder einen der Mitarbeitenden beleidigt hat, kann diese Person als Kunde abgelehnt werden. Eine Diskriminierung wäre es, wenn ich aufgrund dieses Verhaltens alle blinden Personen nicht bedienen würde.
Bei sogenannten Massen-Geschäften, also Dienstleistungen, die für zahlreiche unterschiedliche Personen erbracht werden, sind unbegründete Diskriminierungen von bestimmten Gruppen generell verboten. Die Blutspende dürfte so ein Massen-Geschäft sein. Also liegt hier eine Diskriminierung durch Haema vor. Bleibt die Frage, ob die Diskriminierung begründet ist.
Generell ist es so, dass bestimmte Gruppen von der Blutspende auch gesetzlich ausgeschlossen sind. Das sind Personen, die zu jung oder zu alt sind, die bestimmte Medikamente einnehmen, eine ansteckende Krankheit haben und so weiter. Das ist sachlich begründet, weil etwa gesundheitliche Aspekte vorliegen, die den Spendenden oder den Empfangenden gefährden könnten.
Es gibt Blinde, die aus solchen Gründen nicht spenden dürfen, aber das trifft nicht auf alle Blinden zu und ist ja auch nicht die Begründung von Haema.
Die von Haema angeführten Gründe können mich allerdings nicht überzeugen. Es gibt ein paar Fragen zum Thema Drogen-Missbrauch oder sexuelle Aktivitäten, wir sind aber nicht mehr in den 50ern, wo man über so etwas nicht sprechen konnte. Doch tun wir einmal so, als ob dem so wäre und der Ausschluss einer Assistenz legitim wäre.
Dann gäbe es zumindest die Möglichkeit, dass ein Mitarbeitender von Haema die Unterstützung übernimmt. „Keine Zeit“ ist mit Sicherheit kein legitimer Ausschluss-Grund. Mit diesem Argument könnte man Blinde von praktisch allem ausschließen – vom Einkauf im Supermarkt bis zur Behandlung bei einer Ärzt:In. Grob geschätzt dauert es maximal fünf Minuten, so einen Fragebogen gemeinsam auszufüllen. Die Einrichtung verdient ihr Geld damit, dass sie das Blut bzw. dessen Bestandteile verkauft. Es dürften schon ein paar hundert Euro pro Spender:In zusammenkommen, ansonsten würde sich ein Privat-Unternehmen nicht so stark in diesem Bereich einbringen.
Nach meiner Einschätzung handelt es sich also um eine nicht-erlaubte Diskriminierung von Blinden durch Haema. In einer Zeit, in der Blutspenden noch knapper sind als ohnehin schon ist das nicht nachvollziehbar.
Hinzu kommt, dass Haema hier tatsächlich die Ausnahme ist. Ich habe in meiner Studentenzeit jahrelang beim Klinikum Marburg Plasma und Blut gespendet und nie ein Problem gehabt. Auch das DRK sagt explizit, dass Spenden durch behinderte Menschen willkommen sind. Warum also Haema? Zum Einen geht es um Grundsätzliches. Wenn ein Privat-Unternehmen Blinde diskriminiert, wird ein Anderes ebenso argumentieren. Speziell für Bonn gilt, dass Haema den besten Standort direkt am Hauptbahnhof hat. Das DRK hat in unserem Stadtteil keinen Standort und das Gelände der Uni-Klinikum entspricht einem kleinen Dorf, da irgendwas zu finden ist schwierig.
Persönlich würde ich nicht bei Haema spenden. Ich fand es immer unangemessen, den medizinischen Bereich durchzu-kapitalisieren. Durch das Verhalten gegenüber Blinden ist meine negative Meinung dazu noch mal unterstrichen worden.
Richtig, es gibt kein Recht auf Blutspende. Es ist auch sinnvoll, einzelne Personen ohne Begründung ablehnen zu können. Niemand möchte das Blut von jemandem haben, der eventuell eine Infektion hat und diese verschweigt, um an die Aufwandsentschädigung zu kommen. Das heißt aber nicht, dass ich pauschal eine Gruppe von Menschen ablehnen kann, ohne dass es dafür eine medizinische oder gesetzliche Begründung gibt. Es ist Diskriinierung, ebenso wie der pauschale Ausschluss von Homosexuellen eine Diskriminierung ist.
Haema hat generell eine fragwürdige Policy bei der Aussortierung von Menschen. Es gibt also keinen Grund, bei dieser Einrichtung zu spenden. Wer etwas für Gleichberechtigung übrig hat, sollte beim DRK, dem Klinikum oder einer anderen Stelle spenden.
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Warum Konflikte zur Inklusion dazu gehören
Seitdem ich mich mit dem Thema Inklusion beschäftige – es begann vor ca. 10 Jahren – haben die Konflikte zwischen behinderten Menschen und der Gesellschaft stetig zugenommen. Konflikte gelten generell als etwas Negatives, sie sind aber tatsächlich ein gutes Zeichen. Hier erfahren Sie, warum das so ist.
Die Idee zu diesem Beitrag kam mir nach der Lektüre des Buches von Aladin El-Mafaalani namens Das Integrationsparadox: Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt. Es sei euch hiermit als Lektüre empfohlen, auch wenn es darin um Migration und nicht um Behinderung geht. Es ist auch als Hörbuch in den Hörbüchereien
Früher war gar nichts besser
Schaut man sich die Vergangenheit an, gab es praktisch keine größere Veränderung, die ohne Konflikt ablief. Ein paar Schlagworte mögen reichen: Die verkrusteten Strukturen der BRD wurden erst durch die 68er aufgebrochen, die heutigen Frauen-Generationen profitieren maßgeblich von Kämpfen, die in den 70er und 80er Jahren ausgefochten wurden, die Gleichberechtigung der Afroamerikaner geht auf die gewaltlosen und auch gewalttätigen Proteste der 60er und 70er Jahre zurück. Die Verbesserungen der Arbeitsbedingungen gehen maßgeblich auf die teils sehr blutigen Proteste der Arbeiter zu verschiedenen Zeiten zurück.
Meine These ist, dass man nicht nur eine Regierung braucht, die bereit ist, Veränderungen umzusetzen. Sie braucht auch den sozialen Druck, der auch die öffentliche Meinung in diese Richtung kippen lässt. Insofern kann einer umwelt-bewussten Regierung nichts Besseres als Fridays for Future und Extintion Rebellion passieren. Es scheint eine Art tipping Point zu geben, ab diesem Zeitpunkt wird der Druck auf die Regierung so groß, dass sie zum Handeln gezwungen ist.
Auch die Dynamik, dass ein schlechtes Gesetz wie das aktuelle Klimapaket nachgebessert werden muss, kommt uns bekannt vor, Stichwort Bundesteilhabegesetz. Man könnte meinen die Regierungen probieren aus, was geht und lassen sich erst durch noch mehr Protest dazu bewegen, ein halbwegs vernünftiges Gesetz auf die Beine zu stellen. Nun ja, das aktuelle BTHG ist nicht das Gelbe vom Ei, aber der vorherige Entwurf war deutlich schlimmer.
Früher gab es schlicht deshalb weniger Konflikte, weil sich Behinderte und Nicht-Behinderte nicht begegnet sind. Es gibt nach wie vor die Behinderten-Einrichtungen, in denen man sein ganzes Leben verbringen kann: Man wohnt im Wohnheim, geht in die Werkstatt arbeiten, macht abends den Nährkus, geht in die kleine Kneipe und kauf Produkte des täglichen Bedarfs im Kiosk ein, alles auf dem gleichenGelände. Viele Blinde legen praktisch keine Strecken zurück außer von Zuhause zur Arbeit und zurück. Da die Förderschulen oft in der Großstadt sind, werden die Schüler per Fahrdienst dort hin gebracht und abgeholt. Die einzigen Icht-Behinderten, auf die man trifft sind die Mitarbeiter dieser Einrichtungen.
Mit anderen Worten: Behinderte Menschen waren und sind teilweise bis heute in der Öffentlichkeit praktisch unsichtbar. Wo man aber nicht aufeinander trifft, gibt es auch keine Konflikte.
Solche Dinge wie in diesem Video wären also früher nicht passiert, weil Behinderte gar nicht wahrgenommen wurden, nicht mal als Objekte der Ablehnung.
Insofern kommt die Incluencer-Kampagne der Aktion Mensch zur richtigen Zeit.
De-Organisation der Behinderten
Ein wichtiger Prozess ist die De-Organisation: Viele Probleme wurden früher und werden nach wie vor durch Organisationen durch Aushandlungsprozesse befriedet. Allerdings stagnieren die Mitgliederzahlen oder sind sogar rückläufig. Das gilt etwa für Gewerkschaften, Kirchen, Parteien und so weiter.
Wie stark das für Behinderten-Verbände gilt, weiß ich nicht. Mein Eindruck ist allerdings, dass vor allem junge Behinderte kaum noch Mitglied in einem Verband sind. Dazu trägt auch die Inklusion bei, junge Blinde sehen sich in erster Linie als jung und nicht als blind. Sie kommen weniger in Kontakt mit der Blindenszene und sehen vielleicht nicht die Notwendigkeit, in den Verband einzutreten.
Das heißt aber auch, dass sie die Möglichkeiten des Verbandes nicht kennen, Einfluß zu nehmen. Sie sind häufig eher bereit, den persönlichen Kontakt zu suchen und zu eskalieren, wenn sie unzufrieden sind.
Das ist unter anderem dank dem Internet und Social Media deutlich einfacher geworden. Und auch die lokale Presse lässt sich leicht für solche Konflikte gewinnen. Ob die Eskalation in jedem Fall sinnvoll ist, lasse ich mal dahin gestellt.
ePetitionen und Shitstorms sind eine weitere Möglichkeit, Druck auszuüben. Mein Eindruck ist, dass Petitionen mehr als Instrument der Öffentlichkeitsarbeit eingesetzt werden, als für sich selbst wirksam zu sein. Change.org und ähnliche Plattformen haben keine rechtliche Wirkung, da sie nicht von öffentlichen Stellen betrieben werden. Ich bin ehrlich gesagt auch kein Freund von Shitstorms und beteilige mich an solchen Protesten nicht, aber das ist ein anderes Thema.
Und natürlich gibt es die klassischen Protestformen wie Demos, Blockaden und so weiter. Sie werden zwar auch von den klassischen Verbänden, aber gerne auch an ihnen vorbei organisiert. Moderne Kommunikationskanäle machens möglich.
Es hängt natürlich vom Verband ab, aber generell scheinen Einzelpersonen und unabhängige Personengruppen eher bereit, Konflikte mit der Öffentlichkeit einzugehen. Da viele Verbände mittlerweile bei Gesetzgebungs-Prozessen einbezogen sind, sitzen sie oft genug den Leuten gegenüber, gegen die sich der Protest der Nicht-Organisierten richtet.
Und tatsächlich ist es so, dass die Verbände nicht unbedingt alle Themen auf dem Schirm haben, die für die jeweilige Person wichtig sind Oder dass sie schnell genug reagieren können. Last not least haben viele lokale Vereine gar nicht mehr die Personalstärke, um mehr als das unbedingt Notwendige zu machen und manchmal wird nicht einmal das gemacht. Vielleicht wächst eine neue Generation von behinderten Menschen heran, die mehr auf Ad-Hoc-Aktionen setzt und so schnelle Ergebnisse erreicht.
Es gibt Konflikte und Konflikte
Konflikte an sich sind weder gut noch schlecht. Ihre Austragung kann allerdings so oder so erfolgen. Für meinen Geschmack sind viele Aktivisten aus der Behinderten-Szene zu aggressiv und zu persönlich. Sie nehmen es dann mit den Fakten auch nicht so genau. Viele Konflikte werden zu schnell eskaliert.Oft genug ist das persönliche Gespräch, das am Anfang stehen sollte gar nicht gesucht worden. Ich habe häufig den Eindruck, dass da eher persönliche Fehden ausgetragen und Ressentiments gegen „die da oben“ verstärkt werden.
Auch das finden wir in allen Minderheiten-Gruppen, ich habe mich aus der Migrations-Szene weitgehend verabschiedet, weil mir die ton-angebenden Personen zu undifferenziert sind.
Man sollte nichts von den Anderen einfordern, zu dem man selbst nicht bereit ist: Kritik-Fähigkeit, die Bereitschaft, Fehler zuzugeben, eine Position angreifen, nicht aber die Person, ein höflicher und zwischenmenschich respektvoller Umgang, jedem die Möglichkeit lassen, das Gesicht zu bewahren. Ich sage immer, wer nicht im gleichen Maße einstecken kann, sollte gar nicht erst austeilen.
Fazit
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ein Konflikt ist nicht für sich genommen gut. Wir alle würden uns gerne für positive Dinge engagieren anstatt gegen schwachsinnige Gesetze wie RISG oder andere Formen der Ausgrenzung zu demonstrieren. Konflikte sind kein Wert an sich.
Allerdings müssen wir uns von der Idee verabschieden, dass die Inklusion konfliktfrei umgesetzt werden wird. Im Gegenteil: Je mehr Inklusion, desto mehr Konflikte werden sich ergeben.
Am besten für lau – über die mangelnde Anerkennung behinderter Experten
Ich stelle immer wieder fest, dass man als Experte nicht wirklich anerkannt wird – was das Monetäre angeht – wenn man im sozialen Bereich arbeitet.
Ich kann mir lebhaft vorstellen, dass einigen Leuten die Kinnlade runterklappt, wenn sie die Beträge lesen, die wir fordern. Gerade wenn man noch nie mit Freiberuflern zu tun hatte, scheint man ganz falsche Erwartungen zu haben.
Aus den Antworten – oder häufiger Nicht-Antworten – kann man aber auch den Schluss ziehen, dass die Leute tatsächlich erwartet haben, dass wir unsere Arbeit für eine kleine Aufwandsentschädigung oder gar kostenlos erledigen. Die gleichen Leute haben aber kein Problem, vierstellige Tagessätze an Unternehmensberater zu zahlen.
Der übliche Ablauf sieht so aus: Ich werde meistens per Mail angefragt. Fast immer muss man den Leuten aus der Nase ziehen, was sie tatsächlich wollen. Dann schickt man ein Angebot und hört meistens nie wieder was von denen. Meine persönlichen Lieblinge sind diejenigen, die einen eine halbe Stunde am Telefon eine Beratung abluchsen lassen und dann nie wieder von sich hören lassen.
Ich lasse mich nicht dafür bezahlen, dass ich behindert bin, das ist keine besondere Leistung. Ich werde bezahlt für die Expertise, die ich mir im Laufe der Jahre angeeignet habe. Ich sehe mich weniger als Aktivisten, ohne diesen Begriff abwerten zu wollen und mehr als Experten.
Die Kosten der Selbständigkeit
Vielleicht mal als Einblick: Ein Freiberufler muss seine komplette Renten- und Krankenversicherung selbst zahlen. Ist man nicht in der Künstlersozialkasse, können das gerne mal 800 € und mehr pro Monat sein. Man möchte nicht ständig zuhause rumhängen, also soll es ein Büroplatz sein, roundabout 250 € Minimum im Co-Working, je nach Lage kann es aber auch deutlich mehr sein. Technisch muss man möglichst gut ausgestattet sein, ein gutes und vor allem reisefestes Notebook, ein ordentliches Smartphone, ein Tarif mit reichlich Volumen, diverse Adapter (ihr würdet nicht glauben, wie viele Einrichtungen noch Beamer mit VGA betreiben). Dazu kommen viele andere Dinge wie eine BahnCard, eine Website, Software-Lizenzen, diverse Versicherungen und vieles mehr.
Und weiter gehts, natürlich ist es nett, wenn jemand die Reise- und Übernachtungskosten übernimmt. Allerdings kann ich in der Zeit, in der ich an Bahnhöfen oder in der Bahn stehe nichts anderes machen. Diese Zeit muss man also als Arbeitszeit mit kalkulieren.
Natürlich kommen nach einigen Dutzend Schulungen und Vorträgen zahlreiche Materialien zusammen. Sie wurden in vielen Stunden Arbeit erstellt. Sie müssen stetig aktualisiert und natürlich für die jeweilige Zielgruppe optimiert werden. Ein halber Tages-Workshop kostet also ungefähr einen halben Tag Arbeit.
In der Regel sind die Kosten und der Stress für einen behinderten Referenten auf Dienstreise höher. Oft finden die Veranstaltungen irgendwo in der Pampa statt. Unter Pampa fallen bei mir auch Bahnhöfe ohne Lautsprecherdurchsagen oder Taxistand. Ohne Assistenz würde ich solche Aufträge gar nicht annehmen.
Nicht-barrierefreie Ausschreibungen
Eine öffentliche Stelle ließ mir letztes Jahr eine Ausschreibung für einen 1-Tages-Workshop in Berlin zukommen. Es waren glaube ich rund ein Dutzend Dokumente, PDFs, Excel-Tabellen und weiterer Schmus, ich muss nicht erwähnen, dass nichts davon barrierefrei war. Eine Uni schickte mir eine Ausschreibung als PDF, die aus eingescannten Bildern bestand, für Blinde also unzugänglich. Ich habe sofort verstanden, warum sie Support für Barrierefreiheit brauchten.
Ich schätze, dass ich mit Assistenz mindestens einen halben Tag allein für die Ausschreibung gebraucht hätte. Natürlich gibt es viele kompetente Leute in Berlin, so dass ich dankend abgesagt habe.
Mangelnder Respekt
Im Grunde ist es schon frech, die Auftraggeber erwarten schnelle Angebote und zuverlässige Erbringung. Aber von selbst mitzuteilen, dass man sich für einen anderen Anbieter entschieden hat, so viel Verbindlichkeit darf man von ihnen nicht erwarten. Man sollte dazu sagen, dass viele dieser Ausschreibungen schon einen halben Tag oder mehr erfordern, um sie auszufüllen. Sollte man dabei einen Fehler machen – das passiert schnell, wenn man blind ist – wird man ohne Weiteres nicht berücksichtigt. Das Wort „unverbindlich“ wird von den potentiellen Auftraggebern gerne großzügig ausgelegt.
Vieles davon trifft natürlich auch auf die nicht-behinderten Freiberufler zu. Doch habe ich durchaus den Eindruck, dass im im sozialen Bereich der Respekt vor dem Experten noch geringer ist. Arbeitet man mit Menschen, wird selbstverständlich erwartet, dass man günstig oder umsonst arbeitet. Niemand würde aber erwarten, dass der Maler das Haus umsonst streicht oder der Programmierer die Datenbank für ein kaltes Buffet inklusive Getränke fertigstellt.
Verkehrswende barrierefrei – was Behinderung und Klimaschutz gemeinsam haben
Der Klimaschutz wird zurecht in vielen Medien diskutiert. Eines der wichtigsten Anliegen dabei ist eine Verkehrswende. Seltsamerweise höre ich da kaum Stimmen von behinderten Menschen oder ihren Verbänden, Auf den Veranstaltungen zu diesem Thema kommen die Anliegen behinderter und älterer Menschen im Grunde nicht vor. es ist Zeit, das zu ändern.
Kleines Update: Ich wurde gefragt, ob dieser Beitrag etwas mit dem Verkehrsunfall in Berlin zu tun hat, an dem ein SUV beteiligt war. Dem ist nicht so, ich hatte den Beitrag in der Schublade und ihn zufällig an diesem Wochenende fertig geschrieben. Von dem Unfall habe ich nur am Rande gehört. Leider ist es so, dass viele moderne Autos eher sportlich gestaltet sind, das scheint ein Synonym für unbequem zu sein. Für viele ältere Leute ist es schwierig, in konventionelle Autos einzusteigen, übrigens auch in die nicht bordstein-gleichen Busse. Wie ich an anderer Stelle schrieb hat die Regierung nicht nur den Klimawandel, sondern auch den demografischen Wandel verschlafen. Vielmehr scheint sie paralysiert zu sein und nicht in der Lage, auf die Probleme unserer Zeit adequate Antworten zu finden. Mein Beitrag richtet sich nicht gegen SUVs oder bestimmte Autos, sondern gegen den motorisierten Individualverkehr als solchen.
Der tägliche Verkehrsinfarkt
Niemand ist mit der heutigen Verkehrssituation in der Großstadt zufrieden: Pendler stehen im Stau, die Öffis sind die meiste Zeit überfüllt, verspätet und unzuverlässig, Fahrradfahrer leben gefährlich und die Fußgänger werden so behandelt, als ob sie nicht existieren.
Auf dem Land finden wir das Gegenteil: Es gibt teilweise keine Verkehrsversorgung, so dass die Menschen von der Großstadt ohne eigenen fahrbaren Untersatz praktisch ausgeschlossen sind. Das gilt natürlich auch für Behinderte, die nicht in der Stadt leben wollen oder können. Motorisch Behinderte sind viel stärker von der Wohnungsknappheit betroffen, weil sie barrierefreie Wohnungen und Zugänge brauchen. Diese Wohnungen sind vor allem in den Ballungszentren praktisch nicht mehr zu bekommen. Behinderte sind deshalb oft gezwungen, in die Peripherie der Städte oder aufs Land mit der schlechten Infrastruktur zu ziehen.
Keine Verkehrswende ohne uns
Das Problem der Verkehrswende lässt sich klar in einem Satz zusammenfassen: Die Politik traut sich nicht an einen großen Wurf heran, der aber notwendig wäre. Stattdessen doktert sie an einzelnen Symptomen herum, die das Problem aber eher verschärfen. Jüngstes Beispiel dafür sind die Elektro-Scooter. Ein paar Radwege, Elektro-Ladestationen und Elektro-Autos lösen aber exakt kein einziges Problem, sie werden selber zu einem Problem. Als Super-Lösung erscheint das Fahrrad.
Nun bin ich durchaus ein Freund der Fahrradisierung der Innenstadt. Aber nicht unter heutigen Bedingungen. In Bonn gibt es jetzt schon viele Bürgersteige, die wegen abgestellter Fahrräder, anderer Fahrzeuge und dem ganzen anderen Zeug für Behinderte unbenutzbar sind. Das gilt für Blinde mit ihrem Blindenstock, für Rollstuhlfahrer, für Rollator-Nutzer, für Personen mit Kinderwagen und so weiter. Auf die Straße auszuweichen ist teils nicht machbar und teils gefährlich. Wir können uns lebhaft vorstellen, was passiert, wenn auf den Bürgersteigen noch mehr Fahrzeuge, Ladestationen und so weiter dazu kommen.
Hinzu kommt, dass auch die Fahrradfahrer selbst eine Bedrohung sind. Ich stelle jeden Tag fest, dass auf Personen mit einem Blindenstock gar keine Rücksicht genommen wird. Warum muss man trotz ausreichend breiter Wege 10 Zentimeter an mir vorbei rasen, obwohl man den Stock genau gesehen hat? Ich kann nicht anders als das als asoziales Verhalten zu bewerten.
Die Fahrradfahrer fordern mehr Rücksichtnahme von Autofahrern. Gegenüber Fußgängern verhalten sie sich aber wie Rambos auf zwei Rädern. Ich habe tatsächlich nichts dagegen, wenn sie auf den Bürgersteigen unterwegs sind, aber mir leuchtet nicht ein, warum sie das nicht in einem vernünftigen Tempo tun. Wenn alle künftigen Radfahrer sich so verhalten, dann verzichte ich lieber auf die Verkehrswende. Nicht die Fahrradfahrer, sondern die Fußgänger und andere Nutzer des Bürgersteigs sind die am meisten gefährdete und behinderte Gruppe im Straßenverkehr.
Was zu tun ist
Man muss kein Verkehrs-Experte sein, um das Notwendige auszusprechen. Offenbar fällt es aber doch dem Laien, also mir, zu. Das Problem ist, dass wir den großen Wurf brauchen, denn das Rumgefrickel der letzten 40 Jahre hat die Probleme nur verschärft. Es müssen mehrere Maßnahmen parallel durchgeführt werden:
- Der private Autoverkehr muss weitgehend aus der Innenstadt verschwinden. Das Car-Sharing muss konsequent gefördert werden, denn die meisten privaten autos stehen die meiste Zeit ihrer Existenz ungenutzt herum und tun nichts, als Platz weg zu nehmen.
- Die Auto-Parkplätze insbesondere in den Innenstädten müssen reduziert und zu Abstellplätzen für Fahrräder und andere Kleinfahrzeuge umgestaltet werden. Am besten überdacht und mit einem passablen Diebstahlschutz.
- Der ÖPNV muss massiv ausgebaut, billiger, zuverlässig und barrierefrei werden.
- Das Tempo in der Innenstadt muss heruntergefahren werden: Tempo 30 ist vollkommen ausreichend. Parallel sollen Fahrräder und andere Klein-Fahrzeuge dazu berechtigt sein, die Straßen zu nutzen und zwar gleichberechtigt mit den verbleibenden Groß-Fahrzeugen. Den Groß-Fahrzeugen müssen sämtliche Vorrechte entzogen werden, die sie aktuell auf der Straße genießen. Es müssen keine neuen Radwege gebaut werden, für die in der Innenstadt ohnehin kein Platz wäre.
- Die Bürgersteige sollen den Fußgängern, Rollstuhlfahrern, Rollator-Nutzern und anderen langsamen Personen vorbehalten bleiben, Maximal-Tempo 6 km/h. So können auch ältere Menschen, die elektro-Kleinfahrzeuge verwenden wollen, sich aber nicht auf die Straße trauen mobil bleiben. Die Kommunen müssen dafür sorgen, dass ausreichend komfortabel nutzbare Flächen freibleiben. Slalom-Laufen ist keine Lösung. In jedem Fall muss so viel Platz sein, dass zwei Personen aneinander vorbeigehen können, ohne dem Anderen auf die Pelle zu rücken.
- Es braucht flexible und günstige Lösungen, auch für Behinderte, um Zentrum und Peripherie besser miteinander zu verknüpfen. Eine Möglichkeit sind barrierefreie Anruf-Sammeltaxis oder barrierefreies Car-Sharing.
- Die Fußgänger und andere langsame Nutzer des Bürgersteiges sollen als gleichberechtigte Partei neben Klein- und Großfahrzeugen wahrgenommen und behandelt werden.
Es versteht sich von selbst, dass man für besonders herausgeforderte Personen wie Familien mit kleinen Kindern, Gehbehinderte, chronisch Kranke und so weiter besondere Lösungen braucht. Für den gesunden Durchschnitts-Bürger hingegen muss das Privat-Auto möglichst unattraktiv und der ÖPNV im gleichen Zuge möglichst attraktiv werden.
Heute ist genau das Gegenteil der Fall: Wer nicht muss, nutzt den ÖPNV nicht. Die Deutsche Bahn hat ihre Zuverlässigkeit in den letzten Jahren offenbar systematisch verschlechtert. Wir haben wie in vielen Bereichen seit Jahrzehnten Stillstand.
Weiterhin wird bei der Verkehrswende der zweite Schritt vor dem ersten gemacht: Der erste Schritt wäre, die Mobilitätsanlässe drastisch zu reduzieren. Zu den möglichen Maßnahmen gehören der Ausbau des Internet-Zugangs auch in der Peripherie, ein funktionierendes eGovernment, eine großzügige Home-Office-Regelung und der konsequente Einsatz von Fern-Kommunikation, um unnötige Dienstreisen zu verringern. Auch das sind Maßnahmen, von den viele behinderte Menschen profitieren könnten.
Fazit
Die Verkehrswende ist nur ein Aspekt, der uns beim Klimawandel betrifft. Vieles spricht dafür, dass uns Behinderte der Klimawandel besonders treffen wird. Fast alle Behinderten leben in Entwicklungsländern. Sie sind nicht mobil und den Folgen von Dürre und Überschwemmungen praktisch schutzlos ausgeliefert. Doch auch hierzulande sind viele Betroffen. Das Thema Strohhalme mag uns banal erscheinen, für die Betroffenen ist es durchaus relevant.
Umso wichtiger ist es, dass sich mehr Behinderte bei den Diskussionen um den notwendigen Wandel einbringen.
Ich finde es bedauerlich, dass einige Beteiligte versuchen, einen Generationen-Konflikt aufzumachen. Wenn eine Verkehrswende vernünftig gestaltet wird, können alle profitieren: Die Kinder und die Jugend, die Mittel-Alten und die Senioren. Denn im Grunde, das schrieb ich oben, ist niemand mit der heutigen Situation in den Städten zufrieden, selbst die Autofahrer wünschen sich heimlich, dass es weniger Autoverkehr und weniger aggressives Verhalten auf den Straßen gäbe.
Zum Weiterlesen
Wie die Wirtschaft von Barrierefreiheit profitieren kann
Der European Accessibility Act ist soeben verabschiedet worden. Er verpflichtet Teile der Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit, darunter Banken, Buchverlage und Online-Shops. Ob die schon von ihrem Glück wissen?
Da unsere Wirtschaft von kurzfristigem Denken geprägt ist, sehen sie die Vorteile der Barrierefreiheit für sich nicht. Gerade deswegen sind Verpflichtungen sinnvoller als Freiwilligkeit. Das möchte ich in diesem Beitrag näher ausführen.
Das Kosten-Dilemma
Im Grunde würde der Staat der Privatwirtschaft einen Gefallen tun, wenn er sie zur Barrierefreiheit verpflichtet. Ich muss zur Erklärung ein wenig ausholen.
Barrierefreiheit ist natürlich ein Kostenfaktor – das lässt sich nicht leugnen. Die bestehende Infrastruktur muss umgebaut werden. Die Kosten sind teils recht hoch, vor allem, wenn es um Umbaumaßnahmen geht. Es gibt aber keine Verpflichtung, Einzelne müssten also vorpreschen und es umsetzen. Die Kosten dafür müssen auf die Produkte umgelegt werden, anders geht es ja in der Wirtschaft nicht. Wenn ich aber anfange und meine Konkurrenten nicht nachziehen, werden meine Produkte teurer. Die kostenbewussten Käufer gehen aber dorthin, wo die Produkte am billigsten sind. Diesbezüglich brauchen wir uns nichts vorzumachen, Barrierefreiheit ist real genau so wenig ein Attraktor wie Bio.
Wenn aber alle Barrierefreiheit umsetzen müssen, relativiert sich das Ganze. Alle Produkte werden ein wenig teurer, aber der nicht-barrierefreie Konkurrent hat keinen Kostenvorteil. Erforderlich sind dafür aber einheitliche Standards.
Klar ist aber auch: Ohne eine kräftige Förderung wird es nicht gehen. Kleinbetriebe wie Arztpraxen können die Kosten eines barrierefreien Umbaus kaum stämmen. Wenn es aber nur eine oder gar keine barrierefreie Arztpraxis gibt, schränkt das die Wahlfreiheit von gehbehinderten Menschen ein. Wobei Arztpraxis durch einen beliebigen anderen Begriff wie Arbeitsplatz, Apotheke oder Restaurant ersetzt werden kann. Und Gehbehinderte sind das anschaulichste Beispiel, wir können jede andere Behindertengruppe nehmen.
Der Vorteil für die Anbieter
Längerfristig betrachtet haben die Anbieter Vorteile, die auf Barrierefreiheit setzen. Der demografische Wandel ist oft thematisiert worden, aber die Folgen scheinen den Beteiligten nicht klar. Ein Großteil der Bevölkerung kommt in ein Alter, wo sie Einschränkungen in der Beweglichkeit, in den Sinneswahrnehmungen und in der kognitiven Verarbeitungsfähigkeit haben werden. Die Schwelle, wo das zu leichten Einschränkungen führt beginnt weit vor dem, was amtlich als Behinderung anerkannt wird. Diese Menschen werden Probleme haben, Produktbeschriftungen, Speisekarten oder Bedienungsanleitungen zu lesen. Die Beipackzettel von Medikamenten sahen ja schon immer so aus, als ob sie für die Lektüre durch Ameisen ausgelegt waren, irgedwann wird sie keiner mehr ohne Lupe lesen können.
Heißt konkret, auch wenn man keinen Rollstuhl oder Rollator braucht, wird man Probleme haben, eine Treppe hochzukommen. Im Zweifelsfall wird man also das Café vorziehen, wo man keine Treppe steigen muss und die Speisekarte ohne 200 Prozent Zoom lesen kann. Das gilt im übrigen auch, wenn man ansonsten noch relativ fit ist und längere treppenfreie Strecken problemlos laufen könnte.
Übrigens sind das – bei aller berechtigten Kritik an der Altersarmut – die Personen, die mehr Geld und mehr Freizeit haben als die hippen Jugendlichen und jungen Familien, die als bevorzugte Zielgruppe gelten. Teile der Tourismusbranche haben das zumindest schon erkannt.
Die Wirtschaft spürt das sicherlich auch schon, sie sind ja nicht dumm. Doch dürfte hier das Kostendilemma durchschlagen, das ich oben beschrieben habe. Leider taugen Apple und Co. hier nicht als Beispiel. Sie spielen gewinn- und umsatzmäßig in der höchsten Liga.
Barrierefreiheit spart auf lange Sicht Geld
Der Wohnungsmarkt ist für gehbehinderte Menschen eine Katastrophe. Rollstuhlgeeignete Wohnungen müssen häufig bundesweit gesucht werden. Der Umbau einer bestehenden Wohnung ist wenn überhaupt möglich für eine Privatperson mit durchschnittlichem Einkommen kaum zu stämmen. Denken wir an Rollatoren, wird der Bedarf in den nächsten Jahren stark steigen. Wohnungen, die jetzt nicht barrierefrei sind müssen teuer nachgerüstet werden.
Krankenkassen und andere Träger stöhnen schon heute über die Kosten, die sie für Reha und Hilfsmittel übernehmen müssen. Wie wird das aber aussehen, wenn ein Viertel der Bevölkerung darauf angewiesen ist?
Anderes Beispiel: Es ist nicht recht nachvollziehbar, warum die neuen ICEs nicht mit schwellenlosen Zugängen oder integrierten Rampen versehen sind. Die Mobilitätszentrale ist zweifellos bemüht, doch schränkt sie am Ende des Tages die Wahlfreiheit und Flexibilität gehbehinderter Menschen auf eine Weise ein, die nicht tolerierbar ist.
Ich könnte auf diese Weise noch viele Beispiele aneinander reihen. Die Kosten durch mangelnde Barrierefreiheit sind enorm, nur dass sie heute im Wesentlichen nicht durch die Firmen, sondern durch den Staat und die Sozialversicherungen, also durch uns alle getragen werden. Wie ich oben gezeigt habe, wird das nicht mehr lange gut gehen, deshalb sollte der Staat einheitliche Vorschriften zur Barrierefreiheit schaffen.
Barrierefreiheit strategisch umsetzen
Community-finanzierte Hilfsmittel – was Spenden und Crowdfunding bewirken können
Viele Menschen mit Behinderung benötigen Hilfsmittel im Alltag oder zur Nutzung eines Computers. Einige Hilfsmittel erleichtern bestimmte Aufgaben, andere Technologien sind unverzichtbar.
Leider sind viele Hilfsmittel für Privatpersonen unerschwinglich. Ein Screenreader – das ist ein Programm, mit dem Blinde ihren Computer bedienen können – kostet zwischen 2.000 und 3.000 Euro. Ein Braille-Display, das Inhalte des Computers als Blindenschrift ausgibt kostet bis zu 10.000 Euro. Deshalb sind Menschen mit Behinderung oftmals mit veralteter Technik oder Software konfrontiert, während ihnen neue Funktionen oder bessere Hilfsmittel vorenthalten bleiben.
Hinzu kommt, dass Hilfsmittelentwickler Innovationen nur langsam aufgreifen. Der Markt ist relativ klein, die Entwicklungskosten relativ hoch.
Vieles ist heute möglich, was noch vor fünf Jahren undenkbar war. Viele Smartphones und Tablet-PCs haben zum Beispiel Schnittstellen für Hilfstechnik wie Sprachein- und ausgaben integriert, auf denen die Entwickler aufbauen können.
Die Behinderten-Communities selbst haben heute Möglichkeiten, zur Entwicklung besserer Hilfstechnik beizutragen. Zwei dieser Möglichkeiten wollen wir hier vorstellen: das klassische Spendenwesen und das Crowdfunding.
Spendenfinanzierung
Vor allem OpenSource-Projekte finanzieren sich über Spenden. Während sich viele Entwickler praktisch ehrenamtlich engagieren, entstehen trotzdem Kosten für Geräte, Entwicklungsumgebungen und vieles mehr, die über spenden von der Community mitfinanziert werden können. Ein Beispiel dafür ist der kostenlose Screenreader Nonvisual Desktop Access (NVDA). Er ist der einzige offene und kostenlose Screenreader für Windows-Systeme und in einigen Bereichen der kommerziellen Konkurrenz überlegen. NVDA ist ein klassisches OpenSource-Projekt, jeder, der Zeit und Interesse hat kann an seiner Weiterentwicklung mitwirken. Wer nicht über die nötigen technischen Kenntnisse verfügt, kann das Projekt mit einer Spende unterstützen.
Crowdfunding – der Schwarm bezahlts
Crowdfunding bedeutet, dass der Schwarm die Finanzierung eines Projektes übernimmt. Es ist ein Kunstwort aus Crowd = Masse und Fundraising = Spenndensammeln und leitet sich von Crowdsourcing ab. Während beim Crowdsourcing der Schwarm kleine Aufgaben übernimmt, um ein großes gemeinsames Ziel zu erreichen finanziert der Schwarm beim Crowdfunding die Umsetzung kleinerer oder größerer Projekte.
Möchte man etwa eine App entwickeln, die Menschen mit Behinderung hilft, hat aber weder das nötige Geld noch das technische Know-How, könnte man über ein Crowdfunding-Projekt die entsprechenden Gelder akquirieren, um einen Programmierer für die Entwicklung zu bezahlen. Für Crowdfunding gibt es spezielle Plattformen wie Kickstarter.com.
Der typische Ablauf für ein Crowdfunding-Projekt sieht so aus: Der Entwickler hat eine Idee, die er auf einer Crowdfunding-Plattform vorstellt. Er legt außerdem fest, wie viel Geld er über die Plattform erhalten möchte und wie lange er um Unterstützung auf der Plattform werben möchte. Der Unterstützer bietet einen Beitrag seiner Wahl zur Unterstützung an. Wenn die nötige Summe in der anvisierten Zeit erreicht wird, erhält der Entwickler das Geld und kann mit der Umsetzung seiner Idee beginnen. Kommt die erhoffte Summe nicht zusammen, bekommen die Unterstützer in der Regel das Geld zurück. Die Prozedur kann sich je nach gewählter Plattform unterscheiden. Ähnlich wie beim Sponsoring erhalten die Unterstützer je nach Beitrag gestaffelte Dankeschöns wie die Erwähnung auf der Projektseite oder eine Vorabversion des Projektergebnisses.
Spenden sammeln versus Crowdfunding
Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen Crowdfunding und Spenden. Spenden werden über einen längeren Zeitraum gesammelt, teilweise sind sie zweckgebunden, überwiegend werden sie aber für die Organisation als solche gesammelt. Außerdem ist das Spendenwesen eine feste Einrichtung, es wird permanent nach Spendern gesucht.
Crowdfunding-Projekte hingegen sind zeitlich begrenzt. Der Crowdfunder versucht, innerhalb einer bestimmten Zeit eine bestimmte Menge Geld für ein ebenfalls zeitlich begrenztes Projekt zu erhalten. Er kann vorhandene Plattformen nutzen und muss keine spezielle Spendenorganisation aufbauen.
Beiden Finanzierungsformen gemein ist, dass auch schon relativ kleine finanzielle Beiträge zum Erfolg eines Projektes beitragen können. Um zum Beispiel 10.000 Euro zu erhalten müssten rund 1.000 Personen durchschnittlich 10 Euro spenden. Natürlich muss dafür ein wenig Marketing betrieben werden, Crowdfunding ist keinesfalls ein Selbstläufer. Außerdem muss die Community auch bereit sein, die Projekte auch finanziell und nicht nur ideell zu unterstützen. Dabei entfaltet das Internet seinen Reichweitenvorteil: mit guten Projektideen lassen sich viele tausend potentielle Unterstützer erreichen.
Crowdfunding ist deshalb vor allem für kleinere Projekte interessant, die von den Hilfsmittelanbietern nicht angegangen werden, weil sie nicht genügend Gewinn abwerfen oder die Zielgruppe als zu klein eingeschätzt wird. Oft werden die Projekte nach ihrer Beendigung als OpenSource an die Community übergeben, so dass sie von ihr weiterentwickelt werden können.
Fazit
Die community-finanzierte Entwicklung von Hilfsmitteln wird die klassische Hilfsmittelversorgung ergänzen und nicht ersetzen. Vor allem durch die Alterung der Gesellschaft ist absehbar, dass ehr viel mehr Menschen günstige und einfach bedienbare Hilfsmittel benötigen werden. Durch Spenden und Crowdfunding kann jeder ein Stück dazu beitragen, das solche Hilfsmittel entwickelt werden.
Barrierefrei mit WordPress
WordPress und Barrierefreiheit
Jeder nur ein Kreuz – behindert zur Wahl des EU-Parlaments
In wenigen Wochen stehen die Wahlen zum EU-Parlament an. Heute möchte ich meine behinderten Mitleser nicht nur dazu ermutigen, mitzuwählen und das Parlament nicht den Menschenhassern und Faschisten zu überlassen. Wenn ihr die Möglichkeit habt, solltet ihr ins Wahllokal gehen und nicht an der Briefwahl teilnehmen. Ich werde es auch machen.
Dafür gibt es zwei Gründe: Der profane ist, dass ich vergessen habe, die Wahlunterlagen rechtzeitig anzufordern.
Der weniger dämliche ist, dass ich es für wichtig halte, Gesicht zu zeigen. Oder vielmehr, Blindenstock, Rollstuhl und Rollator zu zeigen. Um das zu erklären muss ich ein wenig ausholen.
Zeigt her eure Hilfsmittel
Barrierefreiheit wird noch heute primär als Behindertengerechtigkeit verstanden und auch verkauft. Statt die Vorteile für alle Nutzer aufzuzeigen erweckt man nach wie vor den Eindruck, man würde uns einen Gefallen tun, wenn man eine Rampe über die Stufe legt. Das wirkt sich auch auf die Wahl aus: die Wahl kann nicht zum Event der junge Familie werden, weil die Eltern mit dem Kinderwagen nicht reinkommen.
Eine Ursache der mangelnden Barrierefreiheit dürfte darin bestehen, dass Behinderte in der Gesellschaft nach wie vor kaum sichtbar sind. Die Verantwortlichen und auch die Unverantwortlichen haben keine konkrete Person vor Augen, wenn sie an Barrierefreiheit denken sollen. Wir lachen gerne darüber, wenn ein Webmaster behauptet, seine barriereunfreie Website würde nicht von Behinderten besucht. Aber für viele Kleinunternehmer wie Frisöre, Kneipenwirte oder Shopbetreiber ist das Realität: sie haben nie einen Kunden mit sichtbarer Behinderung zu Gesicht bekommen, auch wenn ihr Geschäft generell zugänglich ist.
Nach wie vor ist es wahrscheinlich, dass die Wahlleiter und auch die Crews in den Wahllokalen den ganzenTag keinen Menschen zu Gesicht bekommen, egal, wie barrierefrei ihr Lokal ist. Die Frage darf ja nicht laut gestellt werden, schwingt aber unterschwellig immer mit: Warum sollen wir uns die Mühe machen, wenn die eh alle Briefwahl machen oder gleich gar nicht wählen?
Ich kann natürlich verstehen, dass ein Rollstuhlfahrer nicht das Abenteuer auf sich nehmen will, vor Ort die böse Überraschung zu erleben, dass er an der Schwelle des Wahllokals nicht weiterkommt. Auch Blinde oder Sehbehinderte wollen lieber in Ruhe zuhause ihr Kreuzchen machen, statt sich unter unnötigen Zeitdruck zu setzen. Dann bleibt aber die Frage: Warum das Wahllokal barrierefrei machen? Wir können diese Frage noch ausweiten: Wofür brauchen wir barrierefreie Märkte, wenn wir eh alles im Internet kaufen? Warum soll das Kino barrierefrei sein, wenn man sich eh alles übers Internet reinzieht? Ihr versteht, worauf ich hinauswill. Es geht nicht um das ökonomische Argument, dass sich jede Investition in x Jahren amortisieren muss. Es geht darum, dass Bewusstsein für Behinderung zu wecken und überhaupt die Notwendigkeit für Barrierefreiheit bewusst zu machen. Ob es nun eine oder zehn Millionen Behinderte sind, Zahlen in dieser Größenordnung sind immer unbegreiflich. Manchmal reicht es aber aus, einen einzigen Behinderten persönlich zu kennen, um zu verstehen, was Barrierefreiheit bedeutet.
Ein großer Erfolg der Behindertenbewegung ist, dass rund 80000 Menschen, die unter vollständiger Betreuung stehen, an der EU-Wahl und den folgenden Wahlen teilnehmen können. Behinderung wirkt also.
Auch würde ich es gerne sehen, wenn es behinderte Wahlhelfer gäbe. Bei Blinden könnte es schwieriger werden, das kann ich schlecht einschätzen. Aber Personen im Rollstuhl, Gehörlose oder mit Down-Syndrom sollten im Wesentlichen problemlos unterstützen können, vorausgesetzt, das Wahllokal ist barrierefrei.
Deshalb werde ich am 26. Mai 2019 meinen Stimmzettel in meinem Wahllokal ausfüllen und ich hoffe, ihr macht das auch.
Auf und ab – warum Qualitätssicherung bei der Barrierefreiheit wichtig ist
Ich werde in meinen Workshops häufig nach Best-Practice-Beispielen für barrierefreie Websites gefragt. Ich muss dann die Zuhörer enttäuschen. Das hat unterschiedliche Gründe. Eine Website kann für eine Gruppe wunderbar funktionieren und für eine andere unbrauchbar sein. Ich habe noch keine Website gesehen, die mich komplett überzeugt hätte.
Der andere Grund ist, dass die Barrierefreiheit von Websites sich tatsächlich täglich ändern kann. Deswegen kann man auch nicht sagen, dass die Barrierefreiheit stetig Fortschritte macht. Zwar hat sich Vieles verbessert. Doch die zunehmende Komplexität von Websites trägt auch dazu bei, dass Barrieren eher zu- als abnehmen. Schauen wir uns dazu ein paar Beispiele an.
Vorneweg: Es liegt mir fern, jemanden an den Pranger zu stellen. Jedoch handelt es sich bei den genannten Firmen um Quasi-Monopolisten auf ihrem Gebiet. Zudem bin ich jeweils Kunde und ich sehe nicht ein, warum ein blinder Kunde offenbar weniger wert ist als ein sehender. Ich habe jeweils Kontakt mit den Firmen aufgenommen und keine oder nur halbgare Antworten erhalten.
Deutsche Bahn
Als Vielfahrer kaufe ich regelmäßig Tickets bei der DB. Der Kaufprozess, ohnehin für Blinde schon komplex, wird aber ständig verändert. Beim letzten Kauf musste man entscheiden, ob man Flexpreis oder Sparpreis auswählen wollte. Nun gab es aber kein Element in diesem Bereich, das für Blinde als anklickbar erkennbar gewesen wäre. Nur durch Ausprobieren konnte man herausfinden, dass man ganz unten im jeweiligen Element die Leertaste drücken musste, um das Element auszuwählen.
Noch schlimmer war, dass man auf der letzten Seite vor dem Abschicken der Bestellung eine Checkbox aktivieren sollte. Leider war die Checkbox für den Screenreader vollkommen unsichtbar.
Das Problem bestand einige Wochen, ist aber mittlerweile behoben. Es stellt sich aber die Frage, warum die Bahn keinen öffentlich sichtbaren Ansprechpartner für Barrierefreiheit hat. Ich hatte noch eine überflüssige Unterhaltung mit @DB_Bahn. Nach dem mich der Social-Media-Mensch minutenlang über das Problem ausgefragt hatte, verwies er mich an irgendeine E-Mail-Adresse, an die ich mich wenden sollte. Das ist Service bei der Deutschen Bahn: Erst ausquetschen, dann auf jemand Anderen verweisen, statt die Meldung direkt weiterzuleiten oder mich von Anfang an auf den korrekten Ansprechpartner hinzuweisen.
DHL/Deutsche Post
Bei der Deutschen Post/DHL finden wir ähnliche Probleme. CAPTCHAs ohne alternnatives Audio, um ein Passwort zurückzusetzen, falsch ausgezeichnete Formularelemente und hyperkomplexe Bestellseiten für Paketmarken.
Ein Negativ-Beispiel ist auch die Packstation, ist zwar keine Website, aber hier werden die Probleme recht deutlich. Früher konnte man den PIN über den haptischen 10er-Block eingeben. Mittlerweile müssen sowohl die Postnummer als auch der PIN über eine Bildschirmtastatur eingegeben werden. Ein Spaß für stark sehbehinderte Menschen. Für Blinde sind die Packstationen gar nicht zugänglich. DHL schafft es also, die Zugänglichkeit wirklich stetig zu verschlechtern. Auch hier weit und breit kein Feedback-Mechanismus oder ein Ansprechpartner für Barrierefreiheit. Bei der Post habe ich deshalb gleich auf eine Kontaktaufnahme verzichtet, auch weil ich nicht den Eindruck habe, dass sie das Thema Barrierefreiheit besonders interessiert.
Barrierefreiheit bei der Deutschen Post/DHL
Deutsche Telekom
Ein leider extrem negatives Beispiel ist die Deutsche Telekom. Die App Connect, die das Einloggen in Hotspots ermöglicht, ist seit dem letzten Update null barrierefrei. Im Ernst, wenn ihr ein Paradebeispiel dafür braucht, wie eine App nicht sein sollte, schaut euch Connect an. Praktisch keine der Informationen ist mit VoiceOver auslesbar. Dieses Kunststück bringt auf iOS sonst kaum jemand fertig. Offenbar hat man sämtliche Guidelines ignoriert, die Apple den Entwicklern zur Hand gibt. Dem Vernehmen nach sind auch andere Apps der Telekom schlecht zugänglich.
Nun habe ich öffentlich und privat an die Telekom geschrieben. Öffentlich gab es keine Reaktion. Auf @Telekom hilft wurde mir mitgeteilt, dass das Problem bekannt sei und mit einem der nächsten Updates behoben wird. Das war am 21. März und bis heute hat sich nichts getan. Das genannte Update erfolgte Anfang des Jahres, wir warten jetzt also fast ein halbes Jahr darauf, dass die App wieder nutzbar ist. Barrierefreiheit ist offenbar ein Beta- oder Gamma-Feature bei der Telekom, vielleicht kümmert man sich morgen drum, vielleicht aber auch nicht. Und natürlich gibts auch bei der Telekom keine Feedbackmöglichkeit oder einen Ansprechpartner für Barrierefreiheit.
Fazit: Das kann es nicht sein
Nun handelt es sich um große Unternehmen, die komplex und träge sind. Doch haben sie dank ihrer Größe auch die ressourcen, um eine vernünftige Qualitätssicherung zu betreiben. Was gehört dazu?
- Ein Feedback-Mechanismus, bei dem Fragen zur Barrierefreiheit in angemessener Zeit kompetent bearbeitet werden können.
- die Bereitschaft, Barrierefreiheit als wichtiges Feature zu betrachten, kein großes Unternehmen würde eine fehlerhafte app ein halbes Jahr lang ohne Korrekturen bestehen lassen, aber ohne Barrierefreiheit, das ist halb so schlimm.
- Ein Prozess der laufenden Qualitätssicherung. Dazu gehört strukturiertes Testing durch automatische Prüfverfahren, qualifizierte Entwickler und behinderte Mitarbeiter sowohl entwicklungsbegleitend als auch im laufenden Betreib.
- Ein Monitoring von Anpassungen/Veränderung in Hinsicht auf Barrierefreiheit
Natürlich lassen sich Fehler nicht vermeiden. Doch man kann ihre Wahrscheinlichkeit reduzieren und sie bei einer passenden Meldung schnell beheben. Tut man das nicht, nimmt man die Barrierefreiheit nicht wirklich ernst.
Lange Texte barrierefrei anbieten
Zu einem der wichtigsten Komponenten der Text-Verständlichkeit gehört die Textlänge. Sehbehinderte, Lese-Anfänger und Lese-Unerfahrene sowie Menschen mit Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen mögen keine langen Text-Wüsten.
Kurze Texte gehören im Internet- und vor allem im Smartphone-Zeitalter ohnehin zum guten Ton. Dabei ist Kürze kein Wert an sich. Es geht vielmehr darum, sich auf die jeweils relevanten Informationen zu beschränken und alles Unwichtige wegzulassen.
Nun ist es aber nicht immer machbar, einen Text zu kürzen. Wir wollen uns in diesem Beitrag ansehen, welche Alternativen es zum langen Text auf einer Webseite gibt.
Mehrere Unterseiten
Die einfachste Lösung ist, einen Text auf mehrere Unterseiten zu verteilen.
Aus Lesersicht ist das die schlechteste Lösung. Scrollen ist den meisten Menschen lieber als klicken. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand aussteigt ist an der Stelle, wo er weiter klicken sollte am höchsten.
Sucht man nach einer bestimmten Information, muss man sich durch im schlimmsten Fall mehr als drei Seiten durchblättern. Das macht heute noch kaum jemand.
Blinde müssen sich bei jedem Seitenaufruf neu orientieren. Bei schlecht strukturierten Webseiten ist das schwierig.
Verlinktes Inhaltsverzeichnis
Selten benötigt man alle Informationen, die in einem langen Text enthalten sind. Die Wikipedia hat dieses Problem gelöst, indem sie dem Text ein verlinktes Inhaltsverzeichnis voranstellt. Man kann zwischen Textstelle und Inhaltsverzeichnis mittels seiteninterner Links hin und herspringen.
Das Akkordeon
Eine Variante des verlinkten Inhaltsverzeichnisses, die man immer häufiger sieht ist das Akkordeon. Dabei bekommt man alle Überschriften des Textes angezeigt. Bei einem Klick auf eine Überschrift klappt der darunterliegende Text-Abschnitt aus.
Diese Variante ist für Blinde generell nutzbar. Wichtig ist, dass die ausklappbaren Elemente für den Screenreader als anklickbar erkennbar sind. Ansonsten wundert sich der Blinde, warum er lauter Überschriften, aber keine zugehörigen Infos findet. Und natürlich sollte der jeweils ausgeklappte Text-Abschnitt für den Blinden lesbar sein. Auch für alle anderen Nutzer sollte sichtbar sein, dass etwas anklickbar ist.
Ein Streitpunkt ist, ob ein Ausschnitt ausgeklappt bleiben sollte, wenn man einen anderen Abschnitt anklickt. Ich halte das generell für sinnvoll, weil es sein kann, dass man sich mehrere Abschnitte parallel ansehen oder Informationen abgleichen möchte.
Welche Variante ist wann sinnvoll?
Das Verteilen vieler kurzer Texte auf mehrere Unterseiten ist heute nicht mehr zeitgemäß. Niemand hat ein Interesse daran, sorgfältig verstreute Informationen zusammen zu puzzeln.
Das verlinkte Inhaltsverzeichnis bietet sich an, wenn Texte gerne überflogen werden. Außerdem ist es sinnvoll, wenn sich jemand wahrscheinlich mehrere Teile des Textes anschauen wird. Auch bei stark verschachtelten Texten wie etwa bei langen Wikipedia-Artikeln erscheint das Inhaltsverzeichnis sinnvoll. Das Akkordeon ist meines Erachtens nur dann sinnvoll, wenn die einzelnen Text-Abschnitte nicht zu umfangreich sind.
Das Akkordeon-Prinzip bietet sich an, wenn ein Text nicht nach einer bestimmten Informationshierarchie aufgebaut ist. Das heißt, man muss nicht einen bestimmten Abschnitt gelesen haben, um einen bestimmten späteren Abschnitt zu verstehe. Sind bestimmte Informationen in jedem Fall notwendig, sollten sie vorangestellt und immer ohne Klick sichtbar sein.
Gerade für die ellenlangen FAQs bietet sich das Akkordeon an. Es kommt selten vor, dass man sich alle Fragen und Antworten durchlesen muss oder möchte.
Ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass der Leser den gesamten Text lesen wird, etwa bei Unterhaltungstexten, sollte er vollständig auf einer Seite sein. Ein verlinktes Inhaltsverzeichnis stört im Grunde niemanden, ist aber tatsächlich erst notwendig, wenn der Text überlang ist. Wenn also die Wahrscheinlichkeit, dass der Text in einem Rutsch durchgelesen wird eher gering ist. Außerdem ist ein verlinktes Inhaltsverzeichnis vor allem sinnvoll, wenn die Text-Überschriften, aus denen es generiert wird selbst erklärend sind. In Unterhaltungstexten werden eher Teaser-Überschriften eingesetzt, die nicht selbst-erklärend sind.