„In jedem Fall werden wir nicht darauf verzichten, literarische Fiktionen zu lesen, denn sie sind es, in denen wir nach einer Formel suchen, die unserem Leben einen Sinn gibt. Im Grunde suchen wir unser Leben lang nach einer Geschichte unseres Ursprungs, die uns sagt, warum wir geboren sind und warum wir leben. … Manchmal hoffen wir, unsere persönliche Geschichte mit der des Universums ineins zu bringen.“ Umberto Eco. Im Wald der Fiktionen. Carl-Hanser Verlag 1994, Seite 182
Es sind nicht alle Bücher so stumpfsinnig wie ihre Leser. Es finden sich manchmal Aussprüche in ihnen, die genau auf unsere Verhältnisse zutreffen, die, wenn wir sie richtig lesen und verstehen, für unser Leben heilsamer sein können als der Morgen oder der Frühling und vielleicht allen unseren Angelegenheiten ein neue Wendung geben. Wie viele hatten nicht einem Buch eine neue Ära ihres Lebens zu verdanken! Irgendwo ist das Buch vielleicht vorhanden, das unsere Wunder erklärt und uns neue Wunder offenbart. Was uns selbst noch unaussprechlich erscheint, findet sich vielleicht bereits irgendwo ausgesprochen. Die gleichen Fragen, die uns beschäftigen, beunruhigen und verwirren, haben von jeher alle Menschen beschäftigt. Nicht eine einzige von ihnen ist übergangen worden. Und jeder hat sie seiner Veranlagung nach mit seinen Worten und seinem Leben beantwortet.“ Henry David Thoreau. Walden
Lesen ist an sich eine besondere Fähigkeit. Hirnforscher meinen, eigentlich sei das Gehirn für das Lesen ungeeignet. Die Autorin Maryanne Wolf geht in ihrem Buch „Das lesende Gehirn“ noch genauer auf dieses Thema ein. Eine Kuriosität am Rande: Sokrates hatte die praktisch die gleichen Einwände gegen die Schrift wie sie die heutigen Kritiker gegen das Internet vorbringen.
Andererseits gehört das Deuten von Spuren, also etwa Symbolen, auch zu einer ureigenen Fähigkeit des Menschen. Für Ernst Pöppel ist daher nicht erstaunlich, dass im Web die für das Gehirn leichter verabeitarbaren Symbole, Graphiken und Bilder dominieren. Pöppel weist auch darauf hin, dass es für einen Erwachsenen und bereits für ein älteres Kind wesentlich schwieriger ist, das Lesen zu erlernen. Die Lesefähigkeit muss schon in jungen Jahren erlernt werden, damit sie einem später leicht fällt.
Ein Grundschüler liest seine Wörter, zumindest am Anfang seiner Leserlaufbahn, immer buchstabenweise und
setzt die Buchstaben zu einzelnen Wörtern zusammen. Ein Zusammenhang zwischen einzelnen Wörtern zu einem
ganzen Satz wird im Anfangsunterricht zuerst nicht möglich sein.
Wenn ein Schüler in den höheren Klassen liest, hat sich das Leseverhalten im Vergleich zu einem Grundschulkind völlig verändert. Der geübte Leser erfasst ganze Wortgruppen und Zeilenteile. Er erkennt bekannte Wortmuster und baut aus diesen einen Sinnzusammenhang auf. aus Kompendium der Mediengestaltung für Digital- und Printmedien. hrsg. Joachim Böhringer. Springer 2005
Als Erwachsener lesen zu lernen, ist unheimlich mühsam. Während man als Kind noch spielerisch an die Aufgabe herangeführt wird, wird von Erwachsenen erwartet, daß sie in höherem Tempo lernen, obwohl die Fähigkeit des Lernens schon im frühen Erwachsenenalter nachläßt.
Das Problem beim Lesen besteht nicht im Auswendiglernen der Buchstaben. Es besteht darin, ganze Worte und Sätze, Absätze und zusammenhängende Texte zu erkennen. Wir kennen das, wir müssen nur einzelne Worte erkennen, um einen Text überfliegen zu können. Durch jahrelange Übung sind wir in der Lage, ganze komplexe von häufig zusammen stehenden Wörtern auf einen Blick zu erfassen. Experten, die viele Texte lesen müssen, werden zu richtigen Schnell-Lesern, wobei sie natürlich trotzdem den Inhalt erfassen müssen.
Lesen und Verstehen sind zwei unterschiedliche Aspekte. Ihr kennt das, wenn ihr totmüde seid und trotzdem einen komplizierten Text lesen müsst oder abgelenkt werdet. Ihr lest und versteht zwar die einzelnen Worte, aber der Sinn erschließt sich euch nicht oder ihr vergesst sofort, was ihr gerade gelesen habt. Entscheidend ist daher das Lese-Verstehen.
Stellen wir uns vor, wir würden all die Zeit, die wir mit Lesen verbracht haben mit dem Erlernen des Violine-Spielens verbringen: Wir wären perfekte Violinisten.
Dabei ist uns gar nicht mehr bewußt, wie viel Zeit wir mit Lesen und üben verbracht haben. Wer aber in einer beliebigen Sprache in einem beliebigen Zeichensystem lesen und schreiben kann, ist in dieser Hinsicht kognitiv weiter als jener, der gar kein Zeichensystem beherrscht, siehe auch Die chinesische Schrift formt ein überlegenes Denken – sehr interessantes Interview auf dem Eurasischen Magazin.
Wer etwa im reifen Alter die Blindenschrift lernen muss, stößt genau auf dieses Problem. Es ist kein Problem, einzelne Buchstaben zu lesen, bei Worten wird es schwierig und bei Sätzen hängt man ordentlich in der Luft. Zum Vergleich stelle man sich vor, jemand würde so langsam wie er kann einen Satz vorlesen. Man hätte die ersten Worte vergessen, bevor der Satz zu Ende ist.
Bei Braille kommt noch ein interessantes Problem hinzu: Liest man die ganze Zeit mit einem bestimmten Finger – meistens ist es ein Zeigefinger, dann entwickelt man in diesem Finger eine besondere Sensibilität für die Punkte. Verwendet man nur den Zeigefinger der linken Hand zum Lesen, hat man mit keinem anderen Finger, auch nicht im Zeigefinger der Rechten, eine ähnliche Sensibilität. So fällt es einem schwer, Brailleschrift mit anderen als den Lesefingern zu lesen, ein Problem, das Sehende nicht haben.
Braille läßt sich in wenigen Stunden erlernen, aber es gibt nur wenige Blinde, die tatsächlich flüssig lesen können. Für viele Blinde ist die Sprachausgabe am Computer komfortabler, deren Geschwindigkeit läßt sich problemlos beschleunigen. Hat man sich einmal an die Computer-sprachausgabe gewöhnt, kann man sie auf über 50 Prozent und mehr gegenüber normalem Sprachtempo beschleunigen. Ein Tempo, dass selbst von Schnelllesern selten erreicht wird. Ich sage deswegen auch gerne, dass Blinde häufig die einzigen Menschen sind, die im Internet einen Text von Anfang bis zum Ende durchlesen, sofern er nicht todlangweilig ist.
Weiterlesen
- Die Zukunft des Lesens und Schreibens
- Ist die Brailleschrift noch zu retten?
- Nicholas Carr über die Gegenwart des Lesens – Carr ist einer der prominentesten Kritiker der Digitalkultur und ihrer Auswirkungen auf das Gehirn
- Maryanne Wolf. Das lesende Gehirn. Spektrum-Verlag. 2009 – die FAZ hat ein lesenswertes Interviewmit Wolf geführt
- Frank Schirrmacher. Payback. Carl-Blessing-Verlag. 2009 – Schirrmacher ist sozusagen das deutsche Gegenstück zu Nicholas Carr