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Sollten Webseiten mit Screenreadern getestet werden?

Diese Frage wird in einem englischsprachigen Weblog gestellt. Darauf gibt es eine recht eindeutige Antwort. Nein, es sei denn, die Website wird primär von Blinden und Screenreader-Nutzern aufgesucht.

Bis heute verwechseln viele Webdesigner und Frontend-Entwickler Barrierefreiheit mit blindenfreundlich. Das ist teilweise berechtigt: Menschen mit motorischen Einschränkungen verwenden oft die Tastatur statt der Maus, so dass sie ähnlich wie Blinde durch eine Website tabben. Andererseits: wenn jemand aus motorischen Gründen keine Maus benutzen kann, wird er wohl auch Schwierigkeiten haben, eine Tastatur zu bedienen.

Das wird vor allem dann relevant, wenn man wie bei Access-Keys üblich zwei oder drei Tasten gleichzeitig drücken muss, um eine Aktion auszulösen oder einen seiteninternen Bereich anzuspringen. Übrigens käme wohl kein webdesigner auf die Idee, einem sehenden Nutzer so eine Akrobatik aufs Auge zu drücken.

Bei dem Thema Barrierefreiheit bleiben vor allem Menschen mit Lernschwierigkeiten und geringen Internet-Erfahrungen komplett außen vor. Sie werden von der Vielzahl an Elementen gestört, sie wissen oft nicht, was anklickbar ist und was nicht und häufig genug ist die Navigation von Marketing- statt von Usability-Aspekten geprägt.

An dieser Stelle laufen Usability- und Accessibility eindeutig zusammen. Allerdings haben sich Usability-Tests – mehr oder weniger – fest etabliert, während man Zugänglichkeitstests mit Nutzern bisher kaum findet.

Ich frage mich allerdings auch, was einen Webdesigner oder Frontend-Entwickler zum Zugänglichkeits-Guru qualifiziert. Die Lektüre der BIT-V und der WCAG ist zwar langatmig, aber sicher nicht ausreichend. Und hier kommen wir zum Ausgangspunkt zurück: Nicht jede Website sollte mit einem Screenreader getestet werden, aber der Webworker sollte zumindest einmal intensiver mit einem Screenreader (und anderen Zugänglichkeitstechniken) gearbeitet haben.

Wir müssen es zugeben: die WCAG ist schön und gut, aber für den arglosen Leser total unverständlich. Er versteht nicht, warum Überschriften als HTML-Headline umgesetzt werden sollen, warum Formularlemente Labels brauchen und warum jeder Winkel der Seite mit der Tastatur erreichbar sein soll. Und wenn der Webworker nicht praktische Erfahrungen mit Hilfstechniken sammelt (und frisch hält), wird er vermutlich sein Pflichtprogramm abspulen, aber ohne Phantasie und Interesse. Denn er weiß, dass er etwas Bestimmtes tun muss, er kann aber nicht nachvollziehen, warum er es tun soll. So kommen Webseiten mit einem Dutzend Sprungankern am Anfang der Seite zustande, deshalb werden unsinnige Access-Keys generiert und deshalb sehen viele – vorgeblich – barrierefreie Websites so aus, als ob sie auf einem 14-Zoll-Schwarzweiß-Monitor kreiert wurden.

Querlesen für Blinde

Blinde können oftmals schneller im Web unterwegs sein als Sehende. Das mag zum Einen daran liegen, dass sie sich kaum von optischen „Eye-Catchern“ ablenken lassen. Zum Anderen liegt es aber daran, dass sie einige Vorteile des Screenreaders in Kombination mit der Tastatur nutzen können.
Mit einiger Übung kann man mit der Tastatur wesentlich schneller arbeiten als mit der Maus. Der Touchscreen mag einiges für sich haben, man darf aber gespannt sein, ob man mit ihm wirklich komplexe Aufgaben wie das Formatieren eines Textes, das Beschneiden oder gar Manipulieren eines Fotos oder andere Bearbeitungsaufgaben besser, schneller und komfortabler als mit einer Tastatur lösen kann.

Der Marktführer bei Screenreadern Jaws bietet ein paar interessante Funktionen an. Ich bin mir gar nicht sicher, ob viele Menschen diese Funktionen tatsächlich kennen, manchmal stößt man durch Zufall – etwa durch das versehentliche Drücken mehrerer Tasten – auf neue Funktionen, die man vorher noch nicht entdeckt hatte.

Mit der Tastenkombination Einfg+F7 kann man sich alle Links einer Website anzeigen lassen. Bei einigen Medien kann man so die Überschriften von Artikeln lesen, in Shops die Namen der Produkte erfahren usw.

Mit Einfg+F6 kann man sämtliche Überschriften einer Seite lesen, hilfreich zum Beispiel wiederum bei Medien oder auch dort, wo Teilbereiche der Seite mit Überschriften bedacht sind wie die Navigation.

Mit Einfg+F5 kann man sich sämtliche Formularfelder einer Website anzeigen lassen, hilfreich etwa bei langen und unübersichtlichen Formularen. Schade eigentlich, dass Jaws nicht direkt eine Eingabemaske generiert, zum Eingeben von Daten muss man zur Website zurückkehren.
Die Killerapplikation erreicht man mit Einfg+F3, da kann man sich viele Elemente der Website wie Anker, Listen oder Tabellen auflisten lassen.

So erklärt sich der Hintergrund vieler Regeln der barrierefreien Webgestaltung. Auch wenn viele Dinge sich aus em Kontext erschließen lassen, liegt dieser Kontext eben nicht immer vor. Auch, aber nicht nur deswegen, sollte man ordentliche Linktitel, Überschriften und Formularbenennungen vornehmen.

Zugänglichkeit – über Shells, GUIs und Audio

Das Leben des blinden Computernutzers bleibt immer spannend. Er darf sich jedes Mal aufs Neue überraschen lassen, ob er ein bestimmtes Programm bedienen kann oder nicht. Viele Programme lassen sich zumindest teilweise über Tastatur bedienen, viele andere aber nicht. Spaßig wird es, wenn sich Teile des Programms per Tastatur erreichen lassen, andere Funktionen aber hinter Icons auf der Programmoberfläche versteckt sind. Im zweifelsfall wird der Blinde nie erfahren, dass es solche Funktionen gibt. Blinde sind nämlich ebenso wenig geneigt, Dokumentationen zu lesen wie Sehende.

Dabei könnte alles so einfach sein, wenn die Programmierer und Entwickler die Tastatur nur als einen Zugangsweg betrachten würden, der mit der Maus gleich berechtigt ist. Spannend wird es jetzt, weil sich zwischen Maus und Tastatur nun der Dritte Weg über Touchpads etabliert. Alle komplexen mobilen Betriebssysteme werden ohne Anpassung für Touchscreens scheitern.

Es ist ein offenes Geheimnis: Benutzer von Tastatur und der Kommandozeile kommen nach einer gewissen Einarbeitung schneller zum Ziel als die Benutzer graphischer Oberflächen. Eine große Ausnahme ist die Fotobearbeitung. Die Textverarbeitung hingegen ist ein gutes Beispiel: Ein Darstellungsproblem ließe sich in HTML wesentlich schneller lösen als etwa in einem Word-Dokument.
Die Kommando-Zeile ist die Alternative zur GUI, die Tastatur ist die Alternative zur Maus, der audivitive Zugang ist die Alternative zum optischen Zugang.
Wenn man heutzutage mehrere Hundert Euro für ein Betriebssystem ausgibt, dann sollte man auch den Zugang bekommen, den man benötigt. Microsoft aber hat bis heute im Gegensatz zu anderen keinen auditiven Zugang zu seinen Betriebssystemen. Im Gegenteil, viele grundlegende Funktionen sind nur per GUI und Maus zugänglich. Das Unternehmen hat viel Geld in eine graphische Benutzeroberfläche gesteckt, die kein Mensch wirklich braucht, aber keinen Euro in einen Zugang, der auch Blinden zugute kommt.
Nebenbei bemerkt nutzen solche Zugänge auch Menschen mit Lern- oder Leseschwäche, die sich damit auch die Oberfläche erschließen oder sich lange Texte vorlesen lassen können.

Hilfsmittel für Sehbehinderte im Eigenbau

Die meisten Nicht-Behinderten kriegen selten mit, wie teuer Hilfsmittel wie Hörgeräte, Vorlesesoftware und andere unentbehrliche Technik sein kann. Das Kartell der Brillenhersteller hätte ein heilsamer Schock sein können, wird aber wirkungslos verpuffen.

Für die Preise der Hilfsmittel sind die drei Gruppen allesamt mitverantwortlich: Die Hersteller setzen ihre Preise hoch, die Kostenträger bezahlen diese Preise und die Empfänger kümmern sich nicht weiter darum.

Ein Lamento anzustimmen wird unsere Probleme aber nicht lösen. Stattdessen ist Erfindergeist und Innovationsmut gefragt. Zumindest Blinde und Sehbehinderte können sich ihre Hilfsmittel teilweise selbst zusammenschrauben.

Ein Monokular ist ein kleines Fernglas, mit dem Sehbehinderte weit entfernte Objekte lesen können. Da sind zum Beispiel die Anzeigen am Bahnhof, die Nummern von Bussen oder die Namen von Haltestellen. Die Dinger sind gar nicht billig und physikalisch in der Vergrößerung beschränkt. Jede Digitalkamera mit TFT erreicht eine bessere Vergrößerung. Die Screens und Zoomfähigkeiten selbst von Handys sind recht ordentlich, entsprechendes kann man im Laden ausprobieren. Zu achten wäre noch auf die Akkulaufzeit.

Ein Bildschirm-Lesegerät besteht aus einem Bildschirm und einer Kamera. Die Videokamera für ein Lesegerät sollte ohne Zeitverzögerung arbeiten und einen guten optischen Zoom haben. Außerdem benötigt man eine Lichtquelle, wofür sich eine Tischlampe einsetzen ließe. Mit beidem sollte man reichlich experimentieren, in diesem Falle dürfte das ganze Paket bestehend aus Bildschirm – den hat man meistens eh schon – einer GUTEN Kamera und ein starken Tischlampe immer noch leistungsfähiger und mehrseitig einsetzbarer sein als ein Bildschirmlesegerät.

Im Computer-Bereich gibt es mittlerweile reichlich Alternativen zu kommerziellen Screenreadern. NVDA für Windows, diverse Systeme für Linux und Apples voiceover für Macs. Handys kommen mit VoiceOver oder Screenreadern für Android. Kleine Netbooks lassen sich ebenfalls problemlos mit einer Linuxvariante oder NVDA ausstatten. Leider gibt es noch keinen Ersatz für Braillezeilen. Wer noch mehr Anregungen hat, wir freuen uns immer auf Hinweise.